Pressebericht aus der Main Post vom 22.12.2004
von Natalie Gress
Die Frage nach dem Warum
 
Es trägt den Titel "Engelshaar" und ist ihr dritter Kriminalroman: das neueste Werk der Autorin Krystyna Kuhn. Am Montagabend stellte die Lohrerin es bei einer Lesung im Alten Rathaus rund 80 Interessierten vor.
Krystyna Kuhn
FOTO:  NATALIE GRESS
"Ich möchte den Leuten zeigen, wie es zugeht mit dem Tod":
Krimi-Autorin Krystyna Kuhn.


Rituell aufgebahrt liegt sie da auf dem dunkelbraunen Cordbett in einer schäbigen Frankfurter Wohnung. Ihr Rücken eingesunken in die Matratze. Ihre Arme reglos neben dem Körper. Augen und Mund geschlossen. Ein weißes Nachthemd schmiegt sich um ihren Körper. Und um ihr helles Gesicht ringeln sich schwarze Locken. Das ist Jelena Epp. Ein Aussiedlermädchen aus Kirgisien. 16 Jahre alt. Viel zu jung, um zu sterben. Und doch: tot. Ertränkt. In einem Jahrhundertsommer. Mitten in der Großstadt.

Wie in Gottes Namen kann das passieren? Diese Frage frisst sich in Gehirn und Seele der sensiblen Polizeipsychologin Hannah Roosen wie der beißende Spiritus-Geruch in der Wohnung des Opfers in ihre Lunge. Die drei Monate Urlaub nach ihrem letzten nervenaufreibenden Fall sind mit einem Schlag zunichte, als sie ihr erster Job an neuem Arbeitsplatz mit dem inszenierten Tod Jelena Epps konfrontiert. Ein Tod, dessen Würde zur Schau gestellt ist. Ein Tod, der einem jungen Menschen die Persönlichkeit raubt. Und ein Tod, den Hannah Roosen den Eltern des Mädchens überbringen muss. Das ist das Schwerste.

Für ein schlüssiges Täterprofil gibt es wenige Anhaltspunkte. Die Ermittler tappen im Dunkeln. Und geraten in einen Wettlauf mit der Zeit, als Jelenas beste Freundin spurlos verschwindet, die die Leiche gefunden hat. Schwebt auch sie in Todesgefahr? Was weiß Jelenas Freund, der inhaftierte Anführer einer kriminellen Clique? Und welche Rolle spielt die religiöse Aussiedler-Gemeinde um ihre Eltern, die aus der Realität in altertümliches Deutsch und Prophezeiungen von Offenbarung, Antichrist und Verdammnis flüchtet?

Die Suche nach Antworten auf diese Fragen bringt Hannah Roosen Opfer und Täter näher - und entfernen sie gleichzeitig mehr und mehr von ihrem Mann und ihrem pubertierenden Sohn. Im Koordinatensystem zwischen den Achsen Polizeipsychologie und Privatleben verrücken ihre Werte zunehmend - bis an ihre Grenzen.

Christiane Kuhn-Eckert alias Krystyna Kuhn fesselt ihre Leser in "Engelshaar" mit einem dreisträngigen Handlungsgeflecht: den Problemen junger Aussiedler in Deutschland, dem Glauben der Mennoniten und der Fallanalyse der modernen Kriminalistik anhand eines vom Innenministeriums eingerichteten Arbeitsteams für vermisste Kinder und Jugendliche.

Dort arbeitet Hannah Roosen. Ähnlich wie die Illustratorin Berit in "Fische können schweigen" (2001) und die Anthropologin Franka in "Die vierte Tochter" (2003, nominiert für den Frauenkrimipreis Wiesbaden) verkörpert sie die moderne Mördersucherin im Spagat zwischen Job und persönlichen Konflikten. Hannahs Hand führt den Leser durchs Geschehen wie die leitmotivischen Offenbarungszitate zu Beginn jedes Kapitels durch das Werk. Durch ihre Augen blickt er hinter Türen realer Schauplätze und privaten Lebensraums. Mit ihren Ohren hört er die schrägen Zwischentöne in menschlichem Miteinander. Mit ihr rätselt er. Analysiert. Kombiniert. Hadert. Zweifelt. Verzweifelt, zuweilen auch das.

Bei alledem richtet Krystyna Kuhn ihren Focus auch in diesem dritten Kriminalroman nicht auf die Psychologie des Täters, sondern auf die des Opfers. Sie fragt, was einen Menschen zum potenziellen Mordopfer macht, nach dem Warum, dem Motiv eines Verbrechens. "Der Tod interessiert mich", sagt die 1960 in Würzburg geborene Autorin. Seit jeher. "Ich habe schon als Kind Todesanzeigen gelesen." Und: "Ich will zeigen, wie es zugeht mit dem Tod."

"Der Tod interessiert mich"

Krystyna Kuhn Krimi-Autorin

Ein spannender und raffiniert konstruierter Plot, in den Krystyna Kuhns Auslandserfahrungen einfließen. Unterhaltung, auch mit Witz. Und Bildung aufgrund akribischer Recherche. All das bietet "Engelshaar". Doch nicht nur. Es ist auch der sprachlich ausgereifteste Krimi der studierten Slawistin, Germanistin und Kunsthistorikerin. Ihr früheres Schaffen als Lyrikerin mag ihr zugute kommen. Sie malt Bilder aus Worten, gleichsam sicher, einfühlsam und originell. Setzt sprachliche Punkte, Ausrufezeichen und Gedankenstriche. Und implantiert ihren Charakteren eine Sprache, die sie unverwechselbar werden lässt.

Gut verständlich, angenehm in Tempo und Lautstärke, pointiert, gehetzt und pausierend an den richtigen Stellen - so lässt die Autorin sie im Alten Rathaus mit ihrer Stimme auftreten. Sie zieht die Zuhörer in die Handlung und bringt sie mehrmals zum Lachen. Als sie mit den Dialekt einer alten Nachbarin der Toten nachmacht, muss Krystyna Kuhn sogar selbst kichern. "Hessisch war einfacher zu sprechen, wenn man keine Zähne besaß", liest sie vor. Sie kann es auch mit Zähnen gut. Wie schreiben, in eigenem Stil.

Bernhard Münzel, der die Autorenlesung moderierte, urteilte: "Krystyna Kuhn setzt einen ungewöhnlichen Akzent in der deutschen Krimiroman-Szene. Sie hat Wiedererkennungswert." Recht hat er.

Krystyna Kuhn: "Engelshaar", er-
schienen im Piper-Verlag, erhältlich
für 13 Euro.
Pressebericht aus der Main Post vom 22.12.2004
von Natalie Gress

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