Neues aus dem Lohrer Schulmuseum:
Die Kartoffelvitrine

Nun hat auch die letzte freie Wand im Lohrer Schulmuseum eine Verwendung gefunden. Im Anschluss an den historischen Gang durch 200 Jahre der deutschen Geschichte (1789 -1989) unter besonderer Berücksichtigung der schulischen Entwicklung und der Erziehung im außerschulischen Bereich ist eine große Wandvitrine eingebaut worden, in der die Kartoffel, die über Jahrhunderte hinweg in vielerlei Beziehungen auch ein Unterrichtsthema war und auch heute noch ist, thematisiert wird.
Anlass dazu war auch, dass Lohrs „exklusivster“ Club „SOCIETAS AD USUM POTATONIS“ (Gesellschaft zum Nutzen der Kartoffel), der im Schulmuseum seinen Ausgangspunkt genommen hatte, eine Bleibe finden sollte, nachdem alle Bemühungen einer anderen Unterbringung keinen Erfolg gebracht hatten.
Illustrationen im bayerischen Lesebuch für das 3. und 4. Schuljahr, 1947 Illustration zum Lesestück Das Märchen vom guten Kartoffelkönig.
Illustrationen im bayerischen Lesebuch für das 3. und 4. Schuljahr, 1947  Illustration zum Lesestück Das Märchen vom guten Kartoffelkönig

Wie umfassend die Kartoffel Teil des Unterrichts und des Schullebens war, hat der Pädagogikprofessor i.R. Horst Schiffler, Mitglied des Kartoffelclubs und Gründer des Saarländischen Schulmuseums, 2013 in seinem Referat „Kartoffel und Schule“ beim jährlichen Treffen des Kartoffelclubs erläutert.
Nachstehende Auszüge daraus belegen, dass die Kartoffel durchaus in einem Schulmuseum gewürdigt werden darf:
„Es waren im 18. Jahrhundert oft die gleichen Landesfürsten, die die allgemeine Schulpflicht einführten und für die Verbreitung der Kartoffel in ihrem Herrschaftsgebiet sorgten. Das Musterbeispiel dafür ist Friedrich der Große mit seinem General-Landschul-Reglement von 1763 und dem Kartoffelerlass von 1756. (...)
1781 gab der brandenburgische Landadelige Eberhard von Rochow als Schulpatron seiner Güter und Dörfer das erste weltliche Lesebuch heraus. Bis dahin las man im Katechismus, der biblischen Geschichte oder in ausschließlich religiös-moralischen Lesebüchern. Rochows 'Kinderfreund' ist das erste Schulbuch, in dem die Kartoffel auftritt. (…) Eberhard von Rochows Lesebuch findet bald Nachahmer, weil man nun das Lesebuch und die Leseübung als wertvolles Transportmittel für nützliche Kenntnisse erkannt hat. (…) In dem 1792 von dem fränkischen Pädagogen Georg Friedrich Seiler in Erlangen herausgegebenen Lesebuch findet sich ein Kapitel 'Küchenkräuter, Hülsen- und einige andere Früchte', in dem auch die Kartoffel erscheint. Bei diesem Text kann man ein Phänomen beobachten, das in Lesebüchern des 19. Jahrhunderts noch ausgeprägter in Erscheinung tritt: das Interesse an der Herkunft und der merkwürdigen Geschichte der Verbreitung der Kartoffeln in Europa.
„SOCIETAS AD USUM POTATONIS“ Die Bannerfahne des Lohrer Kartoffelclubs
„SOCIETAS AD USUM POTATONIS“
Die Bannerfahne des Lohrer Kartoffelclubs
Die Kartoffel, Schulwandbild um 1955
Die Kartoffel, Schulwandbild um 1955

In einem Lesebuch für die preußische Rheinprovinz von 1874 wird erzählt, wie Francis Drake seinem Freund Kartoffel schenkte und mit den Worten 'Die Frucht ist trefflich und nahrhaft' zum Anbau empfahl. Der Freund unternimmt den Versuch, isst die grünen Samenkugeln, ist enttäuscht und lässt die Pflanzen ausreißen. Der Gärtner verbrennt das getrocknete Kraut. An der Feuerstelle findet der Gutsherr angekohlte rundliche Knollen in der Asche, die an den gerodeten Stengeln hingen. Er zertritt eine und bemerkt im Inneren eine helle Masse, die angenehm riecht. Als er beim Kosten auch noch den Geschmack gut findet, wird ihm klar, was Sein Freund Drake gemeint hat. Er ließ die Knollen, die noch in der Erde lagen, sammeln, überzeugte auch andere vom Wert der Frucht und begründete so den Kartoffelanbau in England.
Ein sehr umfangreiches Lesestück mit dem Titel 'Die Kartoffel' in dem Lesebuch für die Rheinprovinz von 1912 beginnt mit einem Abschnitt, in dem der zeittypische moralische Zeigefinger unübersehbar ist: 'Trotz ihres geringen Nährwertes ist die Kartoffel ein wichtiges Nahrungsmittel geworden. Bei uns ist ihr Anbau noch ziemlich jung. Das Volk wehrte sich gegen die Einführung des fremden Gewächses und kümmerte sich nicht um die Verordnungen der Behörden, die den Anbau empfahlen, während es gierig nach dem Tabak griff, der mit der Kartoffel ungefähr gleichzeitig nach Europa gekommen war.' (…).
Die Insignien des Kartoffelkönigs: Degen, Mütze und Brustband
Die Insignien des Kartoffelkönigs: Degen, Mütze und Brustband Farbensymbolik: grün: die Blätter der Kartoffel; braun: die Kartoffelknolle;
rot-weiß-rot: die Landesfarben von Peru, dem Ursprungsland der Kartoffel


In einem Biologiebuch der NS-Zeit von 1939 wird die volkswirtschaftliche Bedeutung herausgestellt, die Rekordernten von 1937 und 1938 werden betont, der Vierjahresplan für die Verwertung der Kartoffeln als Futtermittel und die Sortenbereinigung durch den Reichsnährstand werden zum Lehrstoff; der biologische Aspekt beschränkt sich auf die Verwandtschaftskunde, bei der außer der Tomate noch einige andere heimische Nachtschattengewächse behandelt werden.
Nach dem 2. Weltkrieg - bis Anfang der 60er Jahre - scheint man sich daran erinnert zu haben, wie froh man war, wenn man mit Kartoffeln den Hunger stillen konnte - Kartoffeltexte unterschiedlicher Art sind wieder würdig, in Lesebücher aufgenommen zu werden.
Danach scheint sich die Freundschaft zwischen Kartoffel und Schule außer in Biologie aufgelöst zu haben.
Es liegt nahe, dass sich mit Kartoffeln auch rechnen lässt, doch es dauert auch hier recht lange, bis sie in Rechenbüchern auftauchen. Das hat aber auch damit zu tun, dass sich die Didaktik erst im Laufe des 19. Jahrhunderts darauf besonnen hat, dass Rechnen mit lebensnahen Aufgaben nützlich sein kann. Solche angewandte Aufgaben können uns heute sogar das Leben in der Vergangenheit veranschaulichen, beispielsweise wenn es in einem Rechenbuch von 1873 heißt: 'Wenn 8 Arbeiter einen Kartoffelacker in 3/4 Tag häufelten, wieviel Arbeiter hätten 1 Tag dazu gebraucht?' Es wird uns bewusst, wie arbeitsintensiv Landwirtschaft damals gewesen ist.
In der NS-Zeit erhalten Kartoffelaufgaben ein völkisches Gepräge:'Während des Krieges konnten die Äcker nicht so gut bestellt und gedüngt werden wie im Frieden. 1918 wurden daher nur 29 469 718 t Kartoffeln geerntet. Fig, 5 zeigt graphisch die Ernte von 1919, die nach Fortfall der Ernte in den abgetretenen Gebieten für das deutsche Volk übrig blieb.
a) Wie groß war 1913 die Ernte in den abgetretenen Gebieten?
b) Wieviel bleibt von der Gesamternte Deutschlands 1913 nach Abzug dieser Ernte übrig?

Die Kartoffelernte Deutschlands betrug im Jahre 1912 in Millionen t 50209. Die Ernte Frankreichs lieferte 12775, Österreich baute 18515, Rußland 36922 Mill. t. Stelle Vergleiche an.'

Ein ganz neuer Aspekt kennzeichnete das Verhältnis von Kartoffel und Schule nach Beginn des 2. Weltkriegs: Schulklassen wurden herangezogen, um den sich in Deutschland ausbreitenden Kartoffelkäfer zu bekämpfen. Begründet wurde das vor allem mit dem kriegsbedingten Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Klassenweise zogen die Schülerscharen in der Befallszeit mit Schachteln und Dosen über die Kartoffeläcker, um Käfer, Larven und Eier einzusammeln. Die deutsche Landwerbung gab eigens eine illustrierte Kartoffelfibel heraus, um zum richtigen Umgang mit dem Schädling anzuleiten. Auch nach dem Krieg wurde die Aktion fortgesetzt, bis die chemische Industrie wieder in Schwung kam und man mit DDT ein wirksameres Mittel zu besitzen glaubte. Im Amtlichen Schulblatt für das Saarland vom Juni 1946 lautet ein Erlass:
Illustration zum Lesestück Erdäpfelklaubn.
Illustration zum Lesestück Erdäpfelklaubn.

'Kartoffelkäferbekämpfung  17.6.1946
Der Kartoffelkäfer tritt in nie dagewesenem Maße in diesem Jahr auf. Daher muss jeder mithelfen, der großen Gefahr, die unsere Ernährungssicherung bedroht zu begegnen.
Aus diesem Grunde ist es erforderlich wie in den vergangenen Jahren, die Schulen in den Kartoffelkäfersuchdienst einzusetzen. Die Suchtage sowie das Aufsichtspersonal werden von den örtlichen Instanzen bestimmt. Die Lehrkräfte beteiligen sich nach Möglichkeit an der Aufsicht beim Suchdienst, der auch während der Ferien durchzuführen ist.'

In der jungen DDR bekam das Kartoffelkäferthema eine politische Wendung, in Anlehnung an Propaganda in der NS-Zeit: Saboteure in amerikanischen Diensten sind am Werk, AMI-Käfer sollen die Ernte vernichten, der Kampf gegen die verderbenbringende Pest aus den USA ist Kampf gegen die Kriegspläne der Imperialisten, ist Kampf für den Frieden. Dafür haben sich alle einzusetzen.
Noch bis in die 50er Jahre konnte die Kartoffel die Schulferienordnung in ländlichen Regionen bestimmen. Ein Erlass von 1950 lautet: (   ) 'In ländlichen Orten können die Sommerferien um drei Wochen gekürzt werden und dafür Ferien zur Zeit der Kartoffel- und Rübenernte eingelegt werden. Die Herren Schulräte reichen mir hierzu Vorschläge im Einvernehmen mit den herren Landräten bis zum 1. Juli 1951 ein.'

Unter dem Thema "Kartoffel und Schule ist auch noch zu erinnern an die Gestaltungen mit Kartoffeldruck im Kunstunterricht, die bei moralinsauren Eltern manchmal Protest ausgelöst haben, da man angesichts hungernder Kinder in der Welt ein so wichtiges Lebensmittel nicht zu schnöden Basteleien missbrauchen dürfe. Den Kindern hat es Spaß gemacht, und sie haben Dank der Kartoffel ihre Kreativität entwickelt und etwas über Drucktechnik gelernt.

Manchen ist auch noch eine schulische Kartoffelverwendung in Erinnerung, die vom Schulpersonal nicht gerne gesehen wurde. Ich möchte sie vorführen: Man nehme einen Bleistiftverlängerer aus Aluminium, einen Pinsel aus dem Farbkasten und eine Kartoffelscheibe von ca. 1 cm Dicke. In jedes Rohrende einen Kartoffelpfropfen, mit dem Pinselstiel einen davon zügig ins Rohr gedrückt und mit deutlichem Pflopp fliegt der andere Pfropfen in die Gegend, gut gezielt, einem Mitschüler in den Nacken. In wilhelminischer Zeit wäre daraus vielleicht eine paramilitärische Übung entwickelt worden, - wenn es schon Aluminium gegeben hätte.

Ich möchte nicht schließen, ohne auf die vielleicht bemerkenswerteste Verknüpfung der Kartoffel mit der Schule hinzuweisen. Als der heutige Kartoffelkönig vor mehr als 65 Jahren mit der Schule in Berührung kam, muss das den Jungen so beeindruckt haben, dass er sich nie mehr davon befreien konnte - er blieb ihr als Lehrer, als Rektor, als Kartoffelkönig verbunden.
Der Gedanke, einmal ohne Schule leben zu müssen, hat ihn zutiefst beunruhigt. Doch mit unbändiger Kreativität, die die gewaltige Einverleibung fränkischer Kartoffeln auslöste, zwang er die Schule in ein Museum, übrigens das einzige Museum unter königlicher Leitung. Die durch königliche Würde veredelte Kartoffel trifft auf die historisch verklärte Schule - kann es eine gelungenere Symbiose geben?“
 

Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen
gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger
Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
(Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main;
Tel. 09352/4960 oder 09359/317,
e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)

zurück zur Homepage
zurück zur Startseite