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![]() Rotkäppchen“ , Meinholds Märchenbild Nr. 1 aus dem Jahr 1903 (Foto: Eduard Stenger, Lohrer Schulmuseum) ![]() Parodie auf Rotkäppchen, von Tomi Ungerer, 1979; Abdruck
mit freundlicher Genehmigung der „Collection Tomi Ungerer, Musées de Strasbourg“ / Diogenes Verlag, Zürich; ![]() Rotkäppchen-Postkarten, um 1925 | „Warum hast Du so ein großes Maul?“ (Text: Eduard Stenger)„Rotkäppchen“: Märchen und Politsatire Schon als die Brüder Grimm „Rotkäppchen“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die literarische Form brachten, wie sie uns heute noch in den Märchenbüchern begegnet, war dieses Märchen für die Zeitgenossen auch ein Kommentar auf die damalige französische Invasion und Besatzung. Rotkäppchen stellte das deutsche Volk dar, der Wolf die französischen Besatzungstruppen und der Jäger wies auf die Dichter der Befreiungskriege 1806-1815 hin. 1831 verglich Heinrich Heine das zaristische Russland mit einem Wolf, der in großmütterlicher Verkleidung über die deutschen Rotkäppchen herzufallen drohte, und Wladimir Majakowski beschrieb 1917 in einem Gedicht das revolutionäre Russland als einen Wolf, der rote Barettchen frisst. Karl Kraus sah 1933 die deutsche Sozialdemokratie in der Rolle eines Mädchens, das ahnungslos Blumen im Wald sucht und nur mit viel Glück vor dem faschistischen Wolf gerettet wird. ((Aus: Hans Ritz, Die Geschichte vom Rotkäppchen, MURIVERLAG, Göttingen, 2000). Auch die NS-Rassenideologen des Dritten Reichs fanden eine passende Ausdeutung: Der böse Wolf symbolisierte die Juden, Rotkäppchen das geknechtete deutsche Volk und im Jäger erkannten sie Hitler, der das arme deutsche Volk befreite. Eine als politscher Witz getarnte Form des Widerstands gegen den totalitären NS-Staat war eine Rotkäppchen-Satire, die als Manuskript in Umlauf kam und auf die Lebensumstände im Dritten Reich anspielte. Vor allem der Ausruf des Jägers „Wie kann eine arische Großmutter so rassefremd schnarchen?“ wurde zur geläufigen Redewendung und führte die unsinnige Rassenlehre vor Augen. Als die Politsatire in der Faschingsausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten 1937 erschien, wurden die verantwortlichen Redakteure von der Gestapo (= Hitlers geheime Staatspolizei) verhört und verwarnt, die Fachingsausgabe eingezogen. In ähnlicher Weise, auch als Manuskript, machte 30 Jahre später in der DDR eine Rotkäppchen-Version mit zahlreichen hintergründigen Anspielungen auf das Leben im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat die Runde. Als Wahlkampfhilfe in der BRD kam Rotkäppchen 1972 wieder „zu Ehren“. Im Frühjahr des Jahres lancierte die baden-württembergische CDU zum Landtagswahlkampf folgendes Inserat: „Rotkäppchen glaubte, die gute Großmutter liegt im Bett. In Wirklichkeit war es der Wolf. Er sprang heraus und fraß Rotkäppchen auf. Manche Bürger sind gutgläubig wie Rotkäppchen. Sie glauben, sie wählen die alte SPD! In Wirklichkeit aber wählen sie die Jusos. Die Radikalen bekommen die Mehrheit. Aber unser Volk will keinen Linkskurs! Wir mißtrauen sozialistischen Träumereien. Denn die sozialistische Wirklichkeit sieht anders aus. In der DDR, an der Mauer, in Prag. Die SPD-Parteitage beweisen: Die Jusos sind die SPD von morgen! Leider ist die SPD heute eine von links unterwanderte Partei.“ Große Probleme bekam 1979 der Landwirt Ulrich Bornebusch aus der Nähe der fränkischen Stadt Aurach, der einen Wolf mit den Zügen von Franz Josef Strauß und davor ein kleines Mädchen an seine Scheune malen ließ mit dem Text: Warum hast Du so ein großes Maul? Es folgte „eine Justizkomödie, die zu den dramatischten Bearbeitungen des jahrhundertealten Märchenstoffs gehört. Die Gerichte kamen ins Rotieren, im Landtag wurden Anfragen eingebracht, die Presse nahm sich des Falles an, Leserbriefe füllten die Spalten der Lokalzeitungen, die Behörden gerieten in die Defensive, das Verfahren wurde eingestellt“. (Aus: Hans Ritz, Die Geschichte vom Rotkäppchen, MURIVERLAG, Göttingen, 2000). Dass auch noch heute bei politischen Auseinandersetzungen gelegentlich das Rotkäppchen in Erscheinung tritt, zeigt der folgende Auszug aus einer Wahlkampfrede Jürgen Trittins im Jahr 2002: „Die SPD erinnert zur Zeit an ein ängstliches Rotkäppchen im Wald. Aber macht Euch keine Sorgen – es gibt Rettung für Rotkäppchen: Sie ist grün, grün wie des Jägers Jacke. Auf, auf ins Jagen – retten wir das Land vor dem schwarzen Wolf.“ Wahlkämpfer sollten aber auch beachten, dass Rotkäppchen im Allgemeinen von seinem Charakter her zwar als hübsch und liebenswert, aber auch als leichtgläubig, naiv und mit einer Neigung zu Nonkonformismus und sexueller Ungebundenheit geschildert wird. Bleibt noch zu erwähnen, dass im Märchen Rotkäppchens Vater nicht genannt wird. Tiefenpsychologen haben aber längst herausgefunden, dass der Vater „tatsächlich in zwei unterschiedlichen Formen zugegen ist – einmal als Wolf, die Externalisation der Gefahren, von ödipalen Gefühlen überwältigt zu werden, und zum anderen als Jäger in seiner beschützenden und rettenden Funktion“. (Aus: Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1980). Auch diese ambivalente Erkenntnis dürfte das Märchen nur bedingt wahlkampftauglich machen. Übrigens: Die ursprüngliche Literaturgeschichte des Märchens „Rotkäppchen“ begann, als der Franzose Charles Perrault 1697 in Paris „Rotkäppchen“ unter dem Titel „Le petit chaperon rouge“ drucken ließ. Perrault war eine Art Hofdichter, der seine Erzählungen adeligen Damen widmete und jeder Geschichte eine lehrhafte Moral anhängte. |