Wenn
heute immer wieder Pädagogen darüber klagen, dass die Schule die
fehlende häusliche Erziehung übernehmen müsse, zeigt ein Blick in die
Lesebücher vor 100 Jahren, dass es auch damals in den Schulen nicht nur
um Wissensvermittlung ging, sondern die Erziehung gemäß den damaligen
Moral- und Wertvorstellungen einen breiten Raum einnahm. Besonders
deutlich ist das in den Fibeln, den Lesebüchern für die 1. Klasse, zu
erkennen. So ist in der „Hoffmann-Fibel“, Oldenbourg Verlag, München,
um 1910, kaum eine Seite, die nicht mit einem zusätzlichen Moralspruch
erziehen will, etwa „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“
oder „Artig, fleißig, folgsam, rein müssen gute Kinder sein“.
Der erste Schultag: „Freundlicher Empfang“ im Klassenzimmer. Seite aus der Comenius-Fibel, von L. F. Göbelbecker,
mit neuen Bildern von Otto Kubel, Otto Nemnich Verlag Leipzig, 1913.Auffallend
ist auch, dass selbst Gebete, die man eigentlich in den Büchern für den
Religionsunterricht findet, umfangreicher Teil des Lesestoffes in den
Deutschbüchern waren. Obwohl seit Einführung der Unterrichtspflicht (in
Bayern 1802) Schulen allgemein als „Staatsanstalten“ galten, behielten
die Kirchen also einen großen Einfluss auf das gesamte Erziehungswesen,
zumal die Schulen bis 1918 der örtlichen Aufsicht des Pfarrers
unterstellt waren. Kirchenbesuch und Sakramentenempfang der Schüler
wurden als Teil der schulischen Erziehung vom Pfarrer überwacht und
Verstöße bestraft.
 „Eine schwäbische Dorfschule“; Illustrations-Holzstich um1885 Die körperliche Züchtigung war in der Volksschule die häufigste Form der Bestrafung. Sie war Bestandteil des schulischen Alltags. |  „Die zerbrochene Schiefertafel“; Holzstich um 1890 Auch kleine Ungeschicklichkeiten führten oft zu körperlichen Züchtigungen. |
Bemerkenswert
ist auch die damalige Rollenerziehung der Kinder in der Schule – ein
häufiges Thema in den Fibeln. Die als beispielhaft beschriebenen
rollenspezifischen Tugenden entsprachen „ganz den Tugenden des
Staatsbürgers in einer patriarchalischen Monarchie: Gehorsam, Wille zur
Ein- und Unterordnung, Treue und Liebe zu den Eltern wie zum Vaterland
und dessen Lenkern. (...) Die Anpassung des Kindes an die Normen von
Eltern und Lehrern war eine Vorübung für die Gewöhnung an die
staatliche Ordnung“. (Aus: „Politik im Schulbuch, Schriftenreihe der
Bundeszentrale für politische Bildung, Band 231, 1985“)
„Die Schule ist aus.“ Lithographie in einem Kinderbuch, um 1890 Schüler reagieren ihren Frust nach einem
anstrengenden Unterricht in Zweikämpfen ab.
Während
die Mädchen auf ihre spätere Mutterrolle eingestimmt wurden,
entsprechend auch das Fach Handarbeit für die Mädchen einen hohen
Stellenwert hatte, war für die Buben vor allem alles Militärische
vorrangig, was im Fach Turnen deutlich wurde.
Das Ziel des
Turnunterrichts (für die Knaben) war die „Förderung der Gesundheit und
Gewandtheit, Gewöhnung an raschen Gehorsam und an gute Körperhaltung,
Erweckung von Besonnenheit, Entschlossenheit, Mut“. (Auszug aus der
„Schul- und Lehrordnung für die Volksschulen des K. B.
Regierungsbezirkes Unterfranken und Aschaffenburg 1913“)
„Schneiderwerkstatt in einer Besserungsanstalt für Knaben“: Erziehung und Disziplinierung durch Arbeit im
„Fürsorgeheim“; kolorierter Holzstich um 1900Meist
wurde die Turnstunde für die Knaben kasernenhofmäßig mit militärischem
Drill und entsprechenden Kommandos durchgeführt, wie das auch auf dem
Bild „Die Turnstunde“ von A. Anker erkennbar ist. Besondere Fürsprecher
eines derartigen Turnunterrichts waren natürlich die Militärs, die
darin einen wichtigen Beitrag zur Wehrertüchtigung sahen.
Bei den
Mädchen dagegen war im Turnunterricht die „Anmut der Bewegungen
anzustreben“, z. B. durch „Singspiele und Reigen. Dornröschen. Liebe
Schwester, tanz mit mir! Lieschen, was fällt dir ein! Reigen unter
Benützung geeigneter heimischer Sing- und Tanzweisen.“
Zu den
herausragenden Ereignissen des Schuljahres zählte des Kaisers
Geburtstag, der auch in den Fibeln gewürdigt wurde, so zum Beispiel in
einer Fibel aus dem Jahr 1915:
„Kaiser Wilhelm ist der Vater des
ganzen Landes. Darum haben wir ihn lieb. Im Januar feiern wir seinen
Geburtstag. Da bringen wir Fahnen mit in die Schule. Manche Kinder
haben auch Säbel und Helme. Das hat der Kaiser gern. Er liebt die
Soldaten.“
(Aus: „Steger-Wohlrabe`sche Fibel für den ersten
Unterricht im Deutschen, Pädagogischer Verlag von Hermann Schroedel,
Halle an der Saale, 1915“)
Fleißbild, um 1900 Mit Fleißbildchen belohnte der Lehrer brave und fleißige Kinder.Hauptsächliche
Grundlage für diesen Teil der Ausstellung sind Fibeln, ergänzt durch
großformatige Schulwandbilder. Die dort dargestellte Lebenswelt der
Schüler wird weitgehend von dörflich-kleinbürgerlichen Themen einer
heilen und in sich ruhenden Heimat bestimmt, während die
problematischen Lebenserfahrungen in keiner Weise erwähnt werden.
Damit
befasst sich der zweite Teil der Sonderausstellung mit den Themen
Gewalt, Kinderarbeit, Alkohol- und Nikotinkonsum von Kindern und
Jugendlichen vor 100 Jahren, und steht so in Kontrast zu den
Darstellungen von einer heilen Welt in den Fibeln.
Schulwandbild um 1900 zum Thema „Alkohol“Immer wieder berichtete die „Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung“ über den
Alkohol- und Nikotinkonsum der Kinder, so auch 1902 im nachfolgenden Text:
„Köln. Ein hiesiger Lehrer stellte kürzlich Montags Nachforschungen über den Alkohol- und Nicotingenuß der
sechsjährigen Knaben an, welche zu folgenden überraschenden, zugleich erschreckenden Ergebnissen führten:
Von den 54 Schülern des ersten Schuljahres hatten am Sonntag vorher 20 Wein, 24 Bier, 19 Schnaps, 17 Wein und Bier,
14 Wein, Bier und Schnaps getrunken. Zehn gaben an, betrunken gewesen zu sein, neun so, daß sie zu Boden fielen;
acht hatten Erbrechen infolge des Alkoholgenusses; 19 hatten geraucht, und zwar 12 auf Veranlassung des Vaters, 4
auf Veranlassung von Brüdern und 5 auf Veranlassung von Soldaten. Einer hatte sich selbst Cigaretten gekauft.
Wenn auch manches Schlückchen und mancher Zug an des Vaters Cigarre harmlos gewesen sein mag, so ist doch die
Traurigkeit der Thatsache nicht zu verkennen. Man bedenke nur: 14 Kinder haben an einem Tage Wein, Bier und Schnaps
getrunken und 9 waren nachweislich sinnlos betrunken. Was sollen die Lehrer mit solchen Kindern anfangen und was wird
aus ihnen werden?“Dass das nicht nur ein deutsches Problem war, belegt auch ein Hinweis in der „Allgemeinen Deutschen
Lehrerzeitung“ 1907: „Schweiz. Ein schönes Streiflicht auf die Schulzustände im Kanton Tessin wirft die dringende Mahnung
des dortigen obersten Schulinspektors an alle Eltern, in welcher gerügt wird, daß Knaben und Mädchen sehr oft völlig betrunken
zur Schule kommen.“Damals
bestimmte in der Regel die so genannte „Prügelpädagogik“ als angeblich
wirkungsvollstes Erziehungsmittel den Schulalltag. Immer wieder
berichtete die „Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung“ von derartigen
Züchtigungen, doch nur die schlimmsten Fälle von Misshandlungen wurden
gelegentlich gerichtlich gesühnt, so wurde ein Lehrer 1902 zu einem
Monat Gefängnis verurteilt, weil er „in nachweislich sieben Fällen sich
einer barbarischen Mißhandlung von Schulkindern, wie das Gericht
betonte, schuldig gemacht hatte. Seine Zuchtmittel bestanden darin, daß
er die Schulkinder mit der Faust unters Kinn schlug, an den Ohren in
die Höhe zog, sodaß ein Junge eine Ohrmuschelverletzung erhielt, mit
dem Stock auf die Unterschenkel schlug etc. Das Ärgste aber war, daß er
die Kinder auf kantige Hölzer knien ließ, ihnen Holztafeln auf die
Köpfe legte und dann andere Kinder sich daraufsetzen ließ.“
Dass
Gewalt auch Gegengewalt zur Folge hat, mussten manche
„Prügelpädagogen“, wie sie von kritischen Zeitgenossen bezeichnet
wurden, am eigenen Leib erfahren.
„Das Tabakscollegium in der Dorfschule.“ Holzstich um 1890 nach einem Originalgemälde von Karl SchlösserNeben
Schusswaffen verwendeten Schüler Messer, Steine und andere Gegenstände
bei ihren Angriffen auf die Lehrer. So zum Beispiel schlug 1906 ein
zwölfjähriger Schüler in Meiderich in der Schule den Hauptlehrer Lukas
mit einer in einen Strumpf eingewickelten Bleikugel gegen den Kopf und
verletzte ihn so schwer, dass der Lehrer wenig später an dieser
Verletzung starb.
Auch Gewalt von Schülern gegen Schüler kam nach Angaben der Lehrerzeitung immer wieder vor.
Beispiele:
1899 zog ein Münchner Schüler auf dem Heimweg von der Schule einen
Revolver und erschoss damit einen 13-jährigen Schüler.
Im Sommer
1900 zündete ein zehnjähriger Junge einem achtjährigen Mädchen die
Kleider an. Das Kind starb an seinen Brandverletzungen.
„Weber“; Schulwandbild um 1910: Bis ins 20. Jahrhundert war vor allem in den Mittelgebirgen die familienmäßig betriebene
Heimweberei eine der wenigen Möglichkeiten des Broterwerbs und schloss auch die Mitarbeit der Kinder bei den
verschiedensten Arbeitsabläufen ein.Üblich und selbstverständlich war die damalige Kinderarbeit in vielen Bereichen.
„Europäischer
Sklavenhandel!“ Unter dieser Überschrift berichtete die „Allgemeine
Deutsche Lehrerzeitung“ 1909 über die minderjährigen Kinder aus Tirol
und Vorarlberg, die während der Sommermonate bei schwäbischen Bauern
gegen eine geringe Entlohnung das Vieh hüteten und deshalb auch
Hütekinder oder Schwabenkinder genannt wurden. Es war nur die
sprichwörtliche Spitze des Eisbergs die Kinderarbeit betreffend. In der
Landwirtschaft war ohnehin die Verwendung von Kindern über Jahrhunderte
hinweg bis weit ins 20. Jahrhundert eine selbstverständliche Gewohnheit
und Beispiel einer unbegrenzten Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft.
Aber auch in der Heimarbeit, in den Fabriken und in vielen
Dienstleistungsbetrieben war Kinderarbeit vor 100 Jahren üblich.
Die
Folgen waren in vielerlei Hinsicht von großem Nachteil für die
kindliche Entwicklung. Oft genug gerieten Kind-Arbeiter auf die schiefe
Bahn und kamen in die so genannten Besserungsanstalten. Über die
dortige „Therapie“ schrieb Otto Rühle 1911: „Neben Prügelqual und
Muckerei herrscht in den Anstalten meistens die rücksichtsloseste und
krasseste Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft. (...) Die ganze Zeit
außer an Sonntagen und einer halben Stunde der Werktage ist mit Schule
und Arbeit vom Morgen bis Abend ausgefüllt. Auf diese Weise ist keine
Zeit für körperliche Übungen, Spielen und andere Zerstreuungen übrig.
Man sieht selten die Knaben spielen, auch hörte ich kein einziges Mal
ein frisches, herzliches Lachen.
Besonders in der Behandlung von
Mädchen feiert die Lieblosigkeit wahre Orgien. (...) Oft werden die
Mädchen bestraft, wenn sie sich bei der Hausarbeit umsehen oder wenn
sie mit Nachbarinnen sprechen. Stundenlang sollen sie am Tage stumm
einer eintönigen Handarbeit sich widmen, nur sehr kurze Zeiträume
dürfen sie sich unterhalten.
Als Erziehungsmittel bedient man sich
der Ordnung, der Arbeit, des Zwanges und meist der Religion. Außer
Körperstrafen gibt es auch Einzelhaft, Nahrungseinschränkung und
Entziehung des Besuchs als Strafmittel.“ (Aus: „Otto Rühle, Das
proletarische Kind, Verlag Albert Langen, München, 1911“)
Rückblickend
darf man wohl feststellen, dass die sog. „gute alte Zeit“ auch und
gerade in Bezug auf die Erziehung der Kinder durchaus oft nicht die
Zeit der glücklichen und in der Familie behüteten Kindheit bzw. die
„fröhliche, selige Kinderzeit“ (Titel eines Kinderbuches) war, sondern
in vielen Fällen den Kindern, vor allem aus ärmeren Familien, durch
unpädagogisches Verhalten, Arbeitsausbeutung usw. einen altersgemäßen
Weg in ein harmonisches und in jeder Beziehung zufriedenes Leben
erschwerte - die neue Sonderausstellung ab dem 13. März 2011 bis zum
15. Januar 2012 informiert darüber in anschaulicher Weise.