Die Welt der Zahlen

Sonderausstellung zur Geschichte des Rechenunterrichtes

im Lohrer Schulmuseum vom 29. Jan. 2023 bis 7. Jan. 2024


Als im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung immer mehr Landesfürsten die allgemeine Schulpflicht einführten, war das Fach Rechnen eher von untergeordneter Bedeutung und erst ab der 5. Klasse im Lehrplan vorgesehen. Entsprechend auch in der Würzburger Schulordnung von 1774, in der es unter § 17 heißt: „ Im fünften Schul-Jahre, nämlich vom 10ten bis zum 11ten ihres Alters, bekommen die Kinder die Rechen-Kunst, und die Geographie wechselweise hinzu.“
Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Bedeutung des Rechenunterrichts als ein Hauptfach stärker hervorgehoben, „weil wir die Rechenkunst in fast allen Verhältnissen des Lebens höchst nötig gebrauchen“.
(G. Zerrenner 1820 in seinem Methodenbuch für Volksschullehrer)

Doppelseite aus dem handgeschriebenen Rechenbuch des damals 14-jährigen Johannes Andonius Dildey aus dem Jahr 1747, dem ältesten Schülerbuch im Bestand des Schulmuseums.
Doppelseite aus dem handgeschriebenen Rechenbuch des damals 14-jährigen Johannes Andonius Dildey aus dem Jahr 1747,
dem ältesten Schülerbuch im Bestand des Schulmuseums.

Zahlenangaben über Einkommen und Preise aus damaligen Zeiten ermöglichen heute interessante Einblicke in die Lebensbedingungen früherer Zeiten, so am nachfolgenden Beispiel, das die schwierigen Lebensumstände des „armen Dorfschulmeisterleins“ in der Lehrerwohnung des Schulmuseums veranschaulicht:
Der Neuendorfer Lehrer Joseph Albert hatte 1911 als Lehrer, Kirchendiener, Organist und Gemeindeschreiber bei freier Wohnung für die vierköpfige Familie 4,64 Mark je Tag zur Verfügung.
In gleichen Jahr kostete in Partenstein bei Lohr a. Main 1 Liter Milch 0,20 Pf., 1 Pfund Butter 1,30 Mark,
1 Zentner Kartoffeln 4 Mark, ein Paar Stiefelsohlen 3,20 Mark und ein Anzug 66,- Mark


Die Lohrer Schulanfängerin Gisela Belinski 1949, rechts daneben die „Russische Rechenmaschine“
Die Lohrer Schulanfängerin Gisela Belinski 1949, rechts daneben die „Russische Rechenmaschine“

Dass das Fach Rechnen in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zeitströmungen eingebunden wurde, wird vor allem in den Textaufgaben des 20. Jahrhunderts deutlich, so etwa im 1. Weltkrieg: Was der „Heldentod“ in Mark und Pfennig wert war, hatten die Volksschüler bei der Schulentlassungsprüfung 1915 zu errechnen:
„Ein Vater hat seine 3 Söhne im Felde bei der deutschen Kriegsversicherung versichert und zwar den jüngsten mit 15 M, den 2ten mit 25 M und den 3ten mit 35 M. Die 3 Söhne fallen.
Was erhält der Vater, wenn der 26 4/5 fache Betrag der Einzahlung ausbezahlt wird?“
Dem Vater wären der Rechnung zufolge für seine drei gefallenen Söhne 2010 Mark von der deutschen Kriegsversicherung ausbezahlt worden.

„Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“, Bucher, Verlagsbuchhandlung, Würzburg, um 1940
„Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“,
Bucher, Verlagsbuchhandlung,
Würzburg, um 1940

Innerer Einbanddeckel im Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“,Bucher Verlagsbuchhandlung, Würzburg, um 1940
Innerer Einbanddeckel im Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“,Bucher Verlagsbuchhandlung,
Würzburg, um 1940

Im Dritten Reich (1933 – 1945) bestimmte der NS- Lehrplan die Ziele des Rechenunterrichts. Dort heißt es: „Unser Rechenunterricht stellt nationalsozialistisches Gedankengut in die Welt der Zahlen hinein und führt mit der Festigung der Einsicht und Überzeugung zu Haltung und Gesinnung. (…) So hilft der Rechenunterricht verantwortungsbewußte und politisch aufgeklärte Menschen erziehen, wirkt er auf Gemüt und Willen und führt zu pflichtbewußter und volksverbundener Tat“. Was darunter zu verstehen war, erkannten erst viele Zeitgenossen später. Dazu die nachstehende  Aufgabe im „Rechenbuch für Volksschulen Württemberg“ 1943 unter der Abteilung „Verjudung Deutschlands“: „1933 zählte Berlin 4,25 Mill. Einwohner, darunter 160000 Juden. Diese spielten eine große Rolle. Es waren unter den Ärzten 48 % Juden, unter den Rechtsanwälten 54 % Juden, unter den Theaterleitern 80 % Juden und unter den Universitätslehrern 37,5 % Juden. Zeichne den jeweiligen Judenanteil in Streifen von 100 mm ein!“
Diese Aufgabe verdeutlicht – wohl damals ungewollt - , wie wichtig unsere jüdischen Mitbürger in allen Bereichen waren.
  Die deutsche Rechenmaschine
 
Wie sehr der Rechenunterricht von den politischen Vorgängen beeinflusst wurde, zeigt auch die Reklame aus der Zeit des Kalten Krieges.
In einem Werbeblatt aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts für die „Deutsche Rechenmaschine“ wird diese beworben als
„ein Kampfgerät gegen die „Russische Rechenmaschine“, die heute noch fast in jeder Schule in irgend einem Winkel,
meist verstaubt und gebrechlich, zu finden ist“. Zusammenfassend heißt es in dem Faltblatt: „Mähdrescher statt Dreschflegel;
Auto statt Kutsche; Staubsauger statt Klopfer, Star.Mix statt Quirl; Füllhalter statt Federkiel und noch hundert andere Errungenschaften,
aber die Russische Rechenmaschine steht in den Schulen wie zu Urgroßvaterszeiten!“

Selbstverständlich wurde Mathematik auch der Ideologie der DDR (1949 – 1989) angepasst.:
„Sicheres, anwendungsbereites mathematisches Wissen und Können ist (in den Klassen 1 – 10) von grundlegender Bedeutung für die gesamte Entwicklung der Schüler, für ihre spätere Tätigkeit in praktisch allen Berufen, für den Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee, für erfolgreiches Lernen in anderen Fächern und in den weiterführenden Bildungseinrichtungen.“
(Aus: Allgemeinbildung und Lehrplanwerk, Volkseigener Verlag Berlin, 1987)
Bemerkenswerte Textaufgaben waren von den Schülern schon in den ersten Schuljahren zu lösen, so die nachfolgenden Aufgaben:
„Eine Kanone der NVA wird von 5 Soldaten bedient. Bei einem Übungsschießen sind 6 Kanonen eingesetzt. Wieviel Soldaten nehmen an der Schießübung teil?“ - Aufgabe in einem 1989 herausgegebenen DDR-Rechenbuch für die 2. Klasse.
In dem Rechenbuch für die 4. Klasse im Jahr 1975 wird die Aufgabe gestellt: „Eine motorisierte Einheit der Nationalen Volksarmee legte bei einer Übung in 6 Stunden 408 km zurück. Wieviel Kilometer fuhren die Wagen durchschnittlich in einer Stunde?“ Derartige Aufgabenstellungen sind in keinem vergleichbaren Grundschulbuch des damaligen „imperialistischen und aggressiven BRD-Klassenfeindes“ zu finden und auch nicht vorstellbar.
Rechenaufgabe im Rechenbuch „Mathematik 2“, Lehrbuch für Klasse 2, Volk und Wissen, Volkseigener Verlag Berlin, 1989.
Rechenaufgabe im Rechenbuch „Mathematik 2“, Lehrbuch für Klasse 2, Volk und Wissen, Volkseigener Verlag Berlin, 1989.

Wie sehr der Rechenunterricht von den politischen Vorgängen beeinflusst wurde, zeigt auch die Reklame aus der Zeit des Kalten Krieges. In einem Werbeblatt aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts für die „Deutsche Rechenmaschine“ wird diese beworben als „ein Kampfgerät gegen die „Russische Rechenmaschine“, die heute noch fast in jeder Schule in irgend einem Winkel, meist verstaubt und gebrechlich, zu finden ist“. Zusammenfassend heißt es in dem Faltblatt: „Mähdrescher statt Dreschflegel; Auto statt Kutsche; Staubsauger statt Klopfer, Star.Mix statt Quirl; Füllhalter statt Federkiel und noch hundert andere Errungenschaften, aber die Russische Rechenmaschine steht in den Schulen wie zu Urgroßvaterszeiten!
Als am 3. Oktober 1968 auf der Kultusministerkonferenz der BRD die Einführung der „Neuen Mathematik“ für alle Schulformen ab dem Schuljahr 1972/73 beschlossen wurde, wurde in der Grundschule die „Mengenlehre“ eingeführt, durch die neben der Vermittlung von Rechenfertigkeiten auch das logische Denken gefördert werden sollte. Diese neue Form des Mathematikunterrichtes wurde schnell von manchen Eltern als Form einer antiautoritären Erziehung abgelehnt, hinzukam, dass viele Eltern bei den Hausaufgaben nicht mehr helfen konnten, weil sie selbst die Aufgaben nicht lösen konnten. Es kam zu offenen Protesten, und 1984 verschwand die Mengenlehre aus den Richtlinien.

Anhand vieler Beispiele ermöglicht die Ausstellung interessante Einblicke in die Geschichte des Rechenunterrichts und zeigt auch, wie Zahlen zur ideologischen Untermauerung missbraucht und den Zeitströmungen angepasst wurden.
(Text: Eduard Stenger)
   

Ergänzende Ausstellung zur Jahres-Sonderausstellung „Die Welt der Zahlen“
im Eingangsbereich des Lohrer Schulmuseums:


Rechenbilderbücher und Rechenspiele
Häusliche Rechenhilfen


Mit dem wachsenden Bildungsanspruch des Bürgertums im 19. Jahrhundert begann auch die Herstellung von Lernmitteln für die häusliche Unterstützung bzw. „Nachhilfe“. Vor allem das Fach „Rechnen“ in Form von Rechenspielen und Rechenbilderbüchern war sehr beliebt. Reich bebildert und koloriert sollten sie das Interesse der Kinder wecken und gewissermaßen spielerisch zum Lernen anregen.

„Lustiges Ein-Mal-Eins 4 x 10 = 40 - wers nicht glaubt, der irrt sich.“; Rechenspiel, um 1910

Lustiges Ein-Mal-Eins 4 x 10 = 40 - wers nicht glaubt, der irrt sich.“; Rechenspiel, um 1910

Für das häusliche Lernen in der Vorschulzeit bot sich vor allem das „1 x 1“ an. Beliebt waren z. B. Bildkarten mit thematischen Grundthemen aus der Märchenwelt oder der Kinderwelt. Auf den Bildkarten wurden meist sechs Kreise ausgespart, in denen die Lösungszahl einer 1 x 1 Aufgabe mit einem sich darauf reimenden Kurztext stand. Bei Gruppenspielen hatte jedes Kind eine oder mehrere Karten vor sich und reihum wurden die Plättchen von einem Stapel in der Mitte genommen. Passten diese zur Lösung, wurden sie eingefügt, wenn nicht, auf den Stapel zurückgelegt. Wer zuerst seine Bilder komplett hatte, war Sieger.

„Schneewittchen“, aus: „MÄRCHEN 1 x 1; RUND UM DIE SCHÖNSTEN DEUTSCHEN MÄRCHEN“; Rechenspiel, um 1960

Schneewittchen“, aus: „MÄRCHEN 1 x 1; RUND UM DIE SCHÖNSTEN DEUTSCHEN MÄRCHEN“;

Ähnlich gestaltet waren die Rechenbilderbücher, in denen das Einprägen und Behalten durch die Verbindung der Rechenaufgaben mit Bildern und Reimen gefördert werden sollte.

(Text: Eduard Stenger, Kopien und Fotos: Bettina Merz)


Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist
von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet.
 Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
 (Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main; Tel. 09352/4960
oder 09359/317 oder 09352/848-465, e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)

zurück zur Homepage

zurück zur Startseite