Flucht und Vertreibung

Als Ergänzung bzw. Vertiefung der Sonderausstellung „Erziehung zum Europäer“
zeigt das Lohrer Schulmuseum im Eingangsbereich ab 4. November bis 16. Dezember 2018
die Sonderausstellung „Flucht und Vertreibung“.
Mit Hilfe von Schulbüchern, Wandbildern und Augenzeugenberichten wird das Thema schwerpunktmäßig
 im 20. Jahrhundert aufgezeigt und folgende Fragen an den Besucher gestellt:


Holzstich von Ludwig Barth 1946, aus dem Lesebuch für die Volksschulen, herausgegeben vom Kultusministerium für Nordwürttemberg und Nordbaden für das 7. und 8. Schuljahr 1948
Holzstich von Ludwig Barth 1946, aus dem Lesebuch für die Volksschulen, herausgegeben vom Kultusministerium für
Nordwürttemberg und Nordbaden für das 7. und 8. Schuljahr 1948

Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Was hat über 60 Jahre Europaerziehung gebracht? Wo stehen wir heute? Wie geht Schule mit dem Thema um?
Waren es nach dem 2. Weltkrieg in erster Linie Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden, kommen heute Flüchtlinge nach der neuesten Statistik (August 2018) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorwiegend aus Syrien, Irak, Türkei, Iran, Afghanistan und Afrika.
Die Vorbehalte, mit denen Flüchtlinge konfrontiert wurden und werden, haben sich jedoch kaum geändert.

So kann sich Frau Anne Walter, geb. Sgraja, die 1945 die Flucht aus Oberschlesien als Kind miterlebt hat und seit 1947 in Lohr wohnt, noch sehr gut an viele Erlebnisse von damals erinnern: „Im Februar 1945 bei eisiger Kälte flohen meine Mutter, mein Bruder und ich vor der russischen Armee, die nur noch 10 km von Ottmachau (Heimatort der Familie Sgraja in Oberschlesien) entfernt war. Über die südliche Route erreichten wir mit dem letzten Personenzug Iglau in der Tschechei. Dort besuchte ich für kurze Zeit eine Schule. Die Kinder ließen mich nicht in ihre Schulbücher schauen und bewarfen mich mit Steinen. Ende Mai/Anfang Juni flohen wir weiter nach Bayern und kamen in Miltach in ein Sammellager. Dort schliefen wir auf Strohsäcken, die auf dem Boden lagen, zusammen mit 27 anderen Personen in einem Raum. Zum Essen kochten wir uns Brennnesselsuppe, geklaute Kartoffeln und Wasserrüben. Aufs Klo gingen wir hinter die Büsche am Hang. Unterhalb davon floss der Regen, in dem ich mit 9 Jahren schwimmen gelernt habe.“
Anne Sgraja und ihr Bruder Johannes im Jahre 1944 (noch in der alten Heimat in Oberschlesien aufgenommen)
Anne Sgraja und ihr Bruder Johannes im Jahre 1944
 (noch in der alten Heimat in Oberschlesien aufgenommen)

Allerdings durfte die damals 9-jährige Anne auch so etwas wie Gastfreundschaft erfahren. So hat sie heute noch Kontakt zu einer bayerischen Familie, die ihnen damals Unterkunft gewährt hat und deren älteste Tochter sogar Firmpatin von Anne wurde.
Als Annes Vater, Ludwig Sgraja, 1946 nach seiner Flucht aus Polen schließlich seine Familie in Miltach wiederfindet, versucht er mit selbst geschnitzten Holzschachteln etwas Geld zu verdienen. 1947 kommen sie nach Lohr, wo er beim Aufbau der Straßenmeisterei mitarbeitet. Die Familie bewohnt nun 2 Dachzimmer über der Straßenmeisterei, die sich damals im Springerhof befand. Allerdings hatte man anfangs kein fließendes Wasser und kein WC in der Wohnung, sondern im Hof, war bei der damaligen Wohnungsnot aber froh, überhaupt wieder etwas Eigenes zu haben.
Flüchtlingsausweis von Anna Letzer, ausgegeben am 28.1.1947 in Waldzell
Flüchtlingsausweis von Anna Letzer, ausgegeben am 28.1.1947 in Waldzell
Mitgliedskarte „Bund vertriebener Deutscher“ von Marie Letzer
Mitgliedskarte „Bund vertriebener Deutscher“ von Marie Letzer

Obwohl viele Flüchtlinge nicht mit offenen Armen empfangen wurden – sie kamen in ein zerstörtes Land, in dem die Einheimischen kaum genug zum Überleben hatten – fand Anne schnell Anschluss in ihrer neuen Heimat und gewann viele Freundinnen. Sie fühlte sich gut aufgenommen und kann sich nicht an Schikanen oder Ausgrenzungen erinnern.
„Ich wollte eine Lohrerin sein und nichts mehr von den schlesischen Bräuchen wissen. Deshalb schloss ich mich auch nicht, wie von meiner Mutter gewünscht, dem Verband der schlesischen Jugend an, sondern der katholischen Jugend Lohr.“
Es darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass von den ca. 14 Millionen Deutschen, die nach dem
2. Weltkrieg flüchteten oder aus ihrer alten Heimat vertrieben wurden, unzählige auf unmenschlichste Weise misshandelt wurden und etwa 2 Millionen von ihnen dabei zu Tode kamen.

Die Flüchtlinge, die diesen Schrecken entkamen, fanden damals Unterkunft in notdürftig eingerichteten Behelfslagern. In Lohr zum Beispiel befand sich das Lager am heutigen Weinbergweg (ehem. Baywagelände), in Marktheidenfeld wurde schon vor Kriegsende ein Lager für ausgebombte Großstädter, vorwiegend aus Düsseldorf und Umgebung angelegt. Als „Rucksäcke“, „Russen“ oder „keine echten Deutschen“ verschrien, durch Krieg, Vertreibung und Gewalt traumatisiert, hatten die Flüchtlinge keinen einfachen Beginn in ihrer neuen Heimat, ohne Hoffnung auf Rückkehr und nur mit dem Nötigsten geflohen.
Sobald der öffentliche Schulunterricht – anfangs unter dem Protektorat der Siegermächte mit zensierten oder neu aufgelegten Schulbüchern – 1945 wieder aufgenommen wurde, kehrte zumindest für die Kinder wieder Ordnung ins Leben ein. Allerdings finden sich in damaligen Schulbüchern kaum Aufarbeitungsversuche zum Thema Flucht und Vertreibung. Vielmehr kehrte man zu bekannten Geschichtsthemen wie Flucht der Juden aus Ägypten, Völkerwanderung, Einfall der Hunnen, Vertreibung der Hugenotten etc. zurück und erst Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre findet man Aufsätze, Bilder und Beiträge zu Fluchtbewegungen und Vertreibungen im und nach dem 2. Weltkrieg im Unterricht.
Einträge in Schülerbögen der Nachkriegszeit wie „Flüchtlingskind“, „ängstlich und nervös“ oder „Durch die Flucht aus ihrer Heimat und die Umquartierungen war sie etwas zurückgeblieben in ihren Leistungen.“ weisen auf die seelischen Verletzungen der Kinder und die daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Schule hin.
Schulwandbild aus dem Jahr 1955 „Heimatvertrieben“
Schulwandbild aus dem Jahr 1955 „Heimatvertrieben“

Heute wird gegen Flüchtlinge als Schmarotzer unseres Sozialsystems, Unterdrücker von Frauen, Rückständige und Ungebildete, Gewalttäter und Terroristen gehetzt – um nur einige Beispiele aus  demagogischen Pamphleten oder Wahlprogrammen rechter Parteien zu nennen - und damit werden bei der Bevölkerung die Urängste vor Veränderung, Überfremdung und Ausnutzung geschürt.

Hat man sich mittlerweile mit Immigranten aus Europa (Italien, Spanien, Griechenland oder dem ehem. Jugoslawien) arrangiert, richten sich Ablehnung, ja sogar Furcht oder Hass gegen Immigranten aus vorwiegend moslemischen Ländern des Nahen Ostens oder Nordafrikas.
2005 kam die Studie „Bilder von Fremden“, bei der hessische und bayerische Schulbücher analysiert wurden, zu folgendem Ergebnis: „Bei der Darstellung von Einwanderern wird häufig ihre Andersartigkeit und Fremdheit betont – sei es bei der „Nation“, „Kultur“, „Religion“, ihrer Haltung zur „Modernität“ oder gar ihrem Aussehen.“
Die Universität Hannover hat in der Studie „Repräsentation der Migrationsgesellschaft“ ähnliche Mängel in Schulbüchern des niedersächsischen Lehrplans festgestellt, wo in einem Erdkundebuch hinsichtlich der Türkei nur Berufsgruppen wie „Basarhändler/-innen“ und „Feldarbeiter/-innen“ aufgeführt werden.
Solche Lücken bzw. Verzerrungen in Schulbüchern werden der Tatsache, dass Deutschland mittlerweile ein Einwanderungsland ist, natürlich in keinster Weise gerecht.

So darf sich der Besucher der Ausstellung nicht wundern, dass kaum aktuelles Unterrichtsmaterial zum Thema „Flucht/Flüchtlinge“ gezeigt wird, obwohl Lehrer sicherlich die Problematik im Unterricht behandeln, dabei jedoch noch wenig Unterstützung durch Lehrplan und Lehrmaterialien erhalten.

Text und Fotos: Bettina Merz, Mitarbeiterin des Schulmuseums Lohr a.Main
(Text und Fotos von Bettina Merz, Mitarbeiterin am Lohrer Schulmuseum)

Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen
gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger
Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
(Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main;
Tel. 09352/4960 oder 09359/317,
e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)

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