Spieglein, Spieglein an der Wand    -    Reflexionen eines Märchens

Das Märchen von Schneewittchen im Spiegel eigener Lebenserfahrung

Schneewittchen Schulwandbild Der neue Schulmann Stuttgart1952
Schneewittchen Schulwandbild  - Der neue Schulmann Stuttgart1952

Was ist das für eine Welt - diese Märchenwelt vom Schneewittchen - in die wir uns beim Lesen, Hören oder Erzählen hineinbegeben? Heil ist sie bei Leibe nicht. Eine böse Stiefmutter treibt darin ihr Unwesen, ein Kind wird bitterster Not ausgesetzt und der Vater lässt offenbar alles widerspruchslos geschehen. Doch am Ende, jeder kennt die Geschichte, geht alles gut aus, denn die Erfüllung von Liebe und Glück ist im Märchen Maßstab und Gesetz.

Der Wende zum Guten gehen aber immer entbehrungsreiche Kämpfe mit tiefen seelischen Erschütterungen und Erfahrungen voraus. Alle Formen der Angst und des Leidens werden uns vorgeführt, bis auch wir auf dem Höhepunkt des Mitbangens und Mitempfindens endlich das rettende Wunder herbeisehnen, welches das Märchen dann bald zum glücklichen Ende führt. Erleichtert, als hätten wir selbst Liebe und Gerechtigkeit suchen und finden, beschützen oder retten müssen, treten wir wieder in die uns umgebende Realität ein.
Schneewittchen Tellus Verlag Essen 50er Jahre des 20 Jahrhunderts
Schneewittchen Tellus Verlag Essen 50er Jahre des 20 Jahrhunderts

Doch ist jetzt niemand mehr derselbe, der er vorher war; das zu neuem Leben erwachte Schneewittchen, der unsterblich verliebte Prinz und vor allem wir selbst, denn im Märchen vollziehen wir vor unserem geistigen Auge die wesenhafte Verwandlung der Helden mit und üben so das alles verändernde Wunder für unser eigenes Leben immer wieder neu ein. Vielleicht ist das ein Grund, warum wir Märchen brauchen.

Eigentlich enden Märchen gar nicht, viel eher eröffnen sie dem Leben neue Wege und Perspektiven - sogar für Schneewittchen im gläsernen Sarg und in ebenso wunderbarer Weise auch für uns, ganz gleich aus welchen Gründen wir uns bedroht, ausgegrenzt und ausgestoßen oder sogar lebend eingesargt fühlen. Teilen wir nicht auch die Lebenserfahrungen, von denen uns im Märchen in symbolhaften, traumähnlichen Bildern berichtet wird?

„Es war einmal...“, so beginnen fast alle Märchen. Das gute Ende mit „...noch heute.“ haben die Brüder Grimm sicher mit besonderem Bedacht und vielleicht sogar in der Hoffnung auch auf uns gewählt.
Schneerwittchen Schulwandbild 20er Jahre des 20. Jahrhunderts
Schneerwittchen Schulwandbild 20er Jahre des 20. Jahrhunderts


Märchenbotschaft im Spiegel der Bilderflut

Das Sammeln in Büchern hat die Märchen einmal vor dem Vergessen bewahrt. Die Illustrationen der Märchen jedoch haben zu einer nachhaltigen Neubelebung der Märchenkultur beigetragen. So wie der Künstler seine persönliche Betroffenheit vom Märchen im Bild verarbeitet, so reflektieren wir darin auch unsere eigenen Lebenserfahrungen, egal ob als Kind oder Erwachsener, Frau oder Mann, Mächtiger oder Ohnmächtiger. Und mit der bildlichen Übertragung des Textes unterstreicht er für uns noch einmal den Prozess der positiven Konfliktbewältigung, das Wesentliche im Märchen.

Vielen Künstlerinnen und Künstlern gelang es Bilder zu schaffen, welche die Vorstellungswelt ganzer Generationen vom Märchen noch heute prägen. Die Darstellung symbolkräftiger Schlüsselszenen auf Kinderspielzeug, Postkarten, Sammelbildern, Schulutensilien und Kalenderblättern verhalf dem Märchen zu ständig neuer Aktualität und Ausdruckskraft. Märchenpuzzles oder Märchenquartetts sind auch heute noch fester Bestandteil der Spielkultur in fast allen Wohn- und Kinderstuben.
Fotorepro dreiteiliges Postkartenset Lohr 1992
Fotorepro  dreiteiliges Postkartenset Lohr 1992

Die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Märchen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts scheint grenzenlos, sie zeigt aber auch die Anfälligkeit gegenüber Vereinnahmung, Verflachung und Verfälschung, bildlich und textlich. Die inzwischen entstandenen Bilderfluten vor allem zu den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen sind deshalb nicht nur eindrucksvolle Dokumente der Kunst, sondern auch aufschlussreiche Zeugnisse des jeweiligen Zeitgeistes oder der zeitkritischen Antwort darauf.
Schneewittchen bei den Zwergen; Wandbild 1916, Verlag Hollerbaum und Schmidt.
Schneewittchen bei den Zwergen; Wandbild 1916, Verlag Hollerbaum und Schmidt

Von besonderer Bedeutung für Lohr im Hinblick auf das 300-jährige Geburtsjubiläum des Lohrer Schneewittchens ist sicherlich das Schneewittchen-Schulwandbild der österreichischen Künstlerin Emilie Mediz-Pelikan (siehe Fotorepr 1).
Es gehört zu den allerersten Schulwandbildern (aus der Zeit um 1905) zum Thema Märchen überhaupt. Gedacht war vom Herausgeber, anhand einer konsequent realistischen Bilddarstellung, den Märchenstoff im Schulunterricht einzuführen und durch Nacherzählen des Märchens die mündlichen und schriftlichen Sprachfertigkeiten der Kinder zu fördern, ein national geprägtes Geschichtsbewußtsein zu vermitteln sowie den Kindern klare moralische Wertmaßstäbe einzupauken. Das Lohrer Schneewittchenbild widersprach jedoch all diesen pädagogischen Grundsätzen im wilhelminischen Deutschland. Die Künstlerin, die der Kunstrichtung des Symbolismus sehr nahe stand, wollte mit ihrer Darstellung des trauernden Zwerges vor allem die seelische Betroffenheit im Märchen hervorheben, was ihr durch die Darstellung der empfindsamen Schönheit und überwirklichen Festlichkeit des Schneewittchens im Glassarg hervorragend gelang und den Betrachter des Bildes noch bis heute sprachlos zurücklässt. Das Bild musste deshalb schon bald vom Verlag zurückgezogen und durch eine andere Darstellung ersetzt werden. Heute ist das Bild im Schulmuseum Lohr aufgrund seiner einzigartigen künstlerischen Ausdruckskraft, seiner schon damaligen geringen Verbreitung und durch die massiven Verluste in den Lehrmittelbeständen der Schulen im Laufe von über 120 Jahren Schulgeschichte nicht nur ein ganz besonderer seltener Schatz, sondern auch ein erstes herausragendes Beispiel dafür, welche Spannbreite sich bei der Interpretation und Illustration der Märchen seither bietet.


Ein seltener Schatz
Schneewittchen im Glassarg

  „Schneewittchen“, Meinholds Märchenbild Nr. 4, sehr seltene Ausgabe aus der Zeit um 1905.
  Anmerkung: Durch die Erfindung des Steindrucks und der Schnelldruckpresse wurde in der
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die preiswerte Herstellung von großformatigen Schulwandbildern möglich.

Die farbenkräftigen Märchenbilder, eingebunden in das reale Leben der jeweiligen Zeit, dokumentieren
heute die Wertvorstellungen aber auch den ideologischen Missbrauch vergangener Epochen.


(Text: Martina und Lutz Dathe, Leipzig und Eduard Stenger, Lohr)
Anmerkung: Das Sammlerehepaar Martina und Lutz Dathe verbindet eine langjährige Freundschaft mit dem Lohrer Schulmuseum.
Ihr besonderes Interesse gilt der kunstwissenschaftlichen Erforschung des Märchen-Schulwandbildes und der Märchenillustration.
Der von ihnen verfasste umfangreiche Katalog "Mit und ohne Zeigestock - Die Märchen der Brüder Grimm auf Schulwandbildern" erfasst und behandelt alle Bilder, die im Verlaufe der wechselvollen Schulgeschichte im deutschsprachigen Raum des gesamten 20. Jahrhunderts
erschienen sind und heute ein wichtiger Teil der Märchenkultur sind.


„Schneewittchen“ - Märchensymbolik
Texte aus: Kleines Handlexikon der    Märchensymbolik, Kreuz Verlag, 2001


Zwerge: Sie „symbolisieren Natur mächte, welche in der Dunkelheit von Wald oder Höhle oder hinter den Bergen,
also im Unbewussten ihr Wesen treiben. Es handelt sich aber um Wesen, die sich nicht zu reifen Menschen entwickeln,
 sondern auf einer vorödipalen Ebene dauernd fixiert bleiben.“


Prinzessin: „Die Bezeichnungen König und Königin sind durchsichtige Tarnungen für Vater und Mutter,
 ebenso Prinz und Prinzessin für Junge und Mädchen.“


Sarg: „Im Märchen findet sich der gläserne Sarg, in dem die Jungfrau (Prinzessin) liegt. Sie ist nicht wirklich tot,
das bedeutet die gläserne Durchsichtigkeit, aber sie ist kalt und starr wie Glas und wartet auf ihre Erlösung, das heißt,
die (erotische) Einweihung in einen neuen Lebensabschnitt.


Stiefmutter: „In der ödipalen Phase des Mädchens wird die Mutter in zwei Gestalten geteilt,
in die gute Mutter der vorödipalen Zeit und die böse Stiefmutter der ödipalen Zeit. Als bedrohliche Figur
besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Stiefmutter und der Hexe, der Zauberin oder der Riesin.“


Spiegel: Es „sind Fenster in eine andere Welt, die nicht wirklich ist...
Der Zauberspiegel... dient überhaupt zur Offenbarung des Verborgenen...“

Die Farben weiß, rot und schwarz:
„Weiß ist die Farbe des Heils, des Friedens und der Freude, ein Zeichen besonderer Schönheit...
Rot ist die Farbe der Lebendigkeit, des Blutes und der Erregung...
Schwarz deutet das geheimnisvolle Muttertum an, aus dem ewig das junge Leben sprießt...“


Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist
von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet.
 Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
 (Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main; Tel. 09352/4960
oder 09359/317 oder 09352/848-465, e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)



zurück zur Homepage
zurück zur Startseite