Im
deutschen Kaiserreich (1871 -1918) prägte die patriotisch-militärische
Begeisterung nahezu alle Lebensbereiche. Deshalb ist es auch nicht
verwunderlich, dass selbst die Schulanfänger als „Schulrekruten“
bezeichnet wurden – Rekrut war an sich damals wie heute die übliche
Bezeichnung des Soldaten in der ersten Zeit der Ausbildung.
Zu den herausragenden Ereignissen
des Schuljahres zählte des Kaisers Geburtstag, der auch in den Fibeln
gewürdigt wurde, so zum Beispiel in einer Fibel aus dem Jahr 1915: „Kaiser
Wilhelm ist der Vater des ganzen Landes. Darum haben wir ihn lieb. Im
Januar feiern wir seinen Geburtstag. Da bringen wir Fahnen mit in die
Schule. Manche Kinder haben auch Säbel und Helme. Das hat der Kaiser
gern. Er liebt die Soldaten.“ (Aus:
Steger-Wohlrabe`sche Fibel für den ersten Unterricht im Deutschen,
Pädagogischer Verlag von Hermann Schroedel, Halle an der Saale, 1915)
Lohrer
Volksschüler der Geburtsjahrgänge 1901/02 mit ihrem Klassenlehrer
Heider,
Foto 1911 vor der Volksschule am Lohrer Kirchplatz, ab
Schuljahr 1911 Mädchenschule; (Fotorepro:
Udo Kleinfelder)
Schülerinnen
(Geburtsjahrgänge 1901-1903) der Lohrer Mädchenschule
(Volksschule),
Aufnahme vor dem Schulhaus (heute Musikschule) um
1910; (Repro:
Eduard Stenger)
Der Kaiser war die höchste
politisch-moralische Leitgestalt, an der Kritik zu üben eigentlich
nicht vorstellbar war, zumal die Kirchen die Monarchie als Teil der
gottgewollten Ordnung und als Abglanz der göttlichen Gesetze
verkündeten. Entsprechend dieser kirchlichen Grundeinstellung waren
tägliche Gebete und religiös unterlegte moralische Regeln
obligatorische Themenkreise in jeder Fibel und sicherten auf diese
Weise auch den Einfluss der Kirchen auf die Kindererziehung. Hohes
Ansehen genoss auch das preußisch-deutsche Militärwesen (dessen
Auswüchse der „Hauptmann von Köpenick“ zu einem genialen Gaunerstreich
nutzte) und gehörte ebenfalls zum verbindlichen Repertoire einer
deutschen Fibel. Das Militär wurde als etwas Erhabenes und
Sympathisches dargestellt, oft auch verniedlicht und geschönt, und den
Buben zur spielerischen Nachahmung empfohlen. Die dabei häufig gewählte
Versform sollte zum Auswendiglernen anregen und dadurch eine
nachhaltigere Begeisterung sichern. Beispiel:
„Nur wacker mit.
Da kommen die Soldaten, in gleichem Schritt und Tritt.
Kein Mann darf stehen bleiben. Sie müssen alle mit.
Der Trommler schlägt die Trommel. Der Hauptmann geht voran.
Der Fahne folgen alle, Soldaten Mann für Mann.
Die Uhr hat zwölf geschlagen. Wir gehen wacker mit.
Wir folgen den Soldaten, in gleichem Schritt und Tritt.“
(Aus: Großstadtfibel, Verlag Otto Nemnich in Leipzig, 1914)
Die
Rodenbacher Volksschüler mit Pfarrer und Lehrer 1911; (Repro:
Eduard Stenger)
Ein weiteres häufiges
Fibelthema war die Rollenzuweisung zwischen Jungen und Mädchen nach dem
Vorbild der Eltern. Die als beispielhaft beschriebenen
rollenspezifischen Tugenden entsprachen „ganz den Tugenden des
Staatsbürgers in einer patriarchalischen Monarchie: Gehorsam, Wille zur
Ein- und Unterordnung, Treue und Liebe zu den Eltern wie zum Vaterland
und dessen Lenkern...Die Anpassung des Kindes an die Normen von Eltern
und Lehrern war eine Vorübung für die Gewöhnung an die staatliche
Ordnung“. (Aus: Politik im Schulbuch, Schriftenreihe der Bundeszentrale
für politische Bildung, Band 231, 1985)

Die erste Volksschulklasse der Lohrer Knabenschule mit ihrem Lehrer Georg Söder im Schuljahr 1919.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Schulanfänger in der Regel nicht mehr "Schulrekruten" genannt.
Die Bezeichnung "ABC-Schütze" wird gelegentlich noch heute verwendet. (Repro: Eduard Stenger)
Selbstverständlich wurden
auch die anderen Lebensbereiche und das natürliche Umfeld der Schüler,
meist dem Jahresablauf folgend, in den Fibeln ausführlich und kindgemäß
dargestellt. Allerdings fällt auf, dass vornehmlich das dörfliche und
bäuerlich-handwerkliche Leben im Mittelpunkt stand, die zunehmende
Technisierung sowie die Folgen dieser Entwicklung (z.B.
Proletarisierung und Massenverelendung) aber weitgehend
unberücksichtigt blieben.

"Aller Anfang ist
schwer", Postkarte um 1900. (Repro:
Eduard Stenger)
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"Der erste Gang in die
Schule"; im Jahr 1848 von Edouard Girardet gemalt.
(Repro:
Eduard Stenger)
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Aus dem Büchlein: „Als ich noch zur Schule ging“, Erinnerungen des Lehrers und Rektors Johannes Schaal,
Druck und Verlag von Breer und Thiemann, Hamm in Westfalen, undatierte Ausgabe:
Über seinen ersten Schultag als ABC-Schütze im Jahr 1897 schreibt der Rektor u. a.:
"Die Tante stellte mich meinem ersten Lehrer, dem Herrn Ritter vor. Der
sah gar nicht furchtbar aus, er lächelte sogar, als er meine
Ängstlichkeit merkte. Herr Ritter war so groß wie mein Vater, hatte
einen Bart wie dieser und trug eine Brille wie meine Tante. Es kamen
immer noch mehr kleine Buben in den Saal, die alle so verwundert
dreinsahen wie ein Hühnchen, das aus der Eierschale in die Welt
hinausguckt. Jeder brachte einen großen Ranzen mit, in den man das
Handwerkszeug meines Bruders hätte verstecken können. Alle starrten die
Dinge im Zimmer der Reihe nach an. Das Kruzifix und das Kaiserbild
kannten sie schon von zu Hause her. Die Rechenmaschine hielten sie für
ein neues Spielzeug, den Kartenhalter für einen Laternenpfahl und den
Zeigestock für eine Bohnengerte. Die düstere Wandtafel mit den
blutroten Linien streiften wir mit scheuem Blick. Vergebens suchten wir
nach der verheißenen bösen Rute.Während ich mein neues Heim zu lieben
begann, hatte sich die Tante still entfernt. So stand ich nun allein im
fremden Haus, unter fremden Leuten. Mein Gesicht verfinsterte sich. Ich
hätte so gern 'Mutter' gerufen, noch lieber wäre ich ohne Abschied der
Tante nachgeeilt. Da zupfte mich ein rotbackiges Kerlchen am Arm und
zeigte mir freudestrahlend die glänzenden Knöpfe an seinem
Matrosenanzug und rasselte mit der Griffeldose den Lehrer herbei. Der
setzte uns nebeneinander in die fünfte Bank an der Fensterseite. Mein
Nachbar hieß Wilhelm. Er war etwas kleiner als ich.Nun mußten wir uns
gerade halten wie Soldaten, die rechte Hand in die linke legen, beide
Hände auf dem Pult wie angenagelt ruhen lassen und unsere Augen auf den
Lehrer richten. Das alles war sehr schwer zu machen...Jetzt spielten
wir mit unseren neuen Tafeln. Der Lehrer rief 'eins'! Sofort mußten
unsere Hände unter das Pult jagen wie das Mäuschen ins Mausloch. Jeder
umklammerte die Tafel mit seinen zehn Fingern so fest, daß sie in
Lebensgefahr geriet, wir bissen dabei auch noch auf die Zähne. Der
Lehrer rief 'zwei!' Im Nu schossen die Tafeln in die Höhe wie die Katze
auf den Baum. Viele wollten das Pult mitreißen. Beim Zusammenstoß
entgleisten die Tafeln, kamen aber doch alle mit unbedeutenden
Verletzungen davon. Auf einmal kicherte es irgendwo. Ein Knabe hatte in
der Eile ein riesiges Butterbrot statt der Schreibtafel erfaßt und
weinte fast vor Entsetzen. Ich ließ mein Tafelschwämmchen hin und her
pendeln und wünschte, daß es Kuckuck rufe gleich unserer Wanduhr. Da
rief die Stimme 'drei!' Ich fuhr erschrocken aus meinem kurzen Traum
und ließ die neue Tafel auf die Bank stürzen, daß sie aufschrie.
Wilhelm bebte vor Schrecken und vergaß, seine Tafel aufs Pult
hinzulegen, wie es alle anderen taten. Als er das Versäumte mit
blitzartiger Geschwindigkeit nachholen wollte, schlug sie so heftig
auf, daß ein dunkler, zackiger Strich entstand, und zwar gleich auf
beiden Seiten derselbe.Nun erholten wir uns, atmeten tief auf und
brachten dann die Tafeln über drei Stationen wieder in ihr Versteck. So
spielten wir noch lange. Zuletzt ging alles so leicht und leise wie
Mückenspiel im Sonnenschein.Der Lehrer lobte uns. Wir gefielen ihm gut.
Er hat auch ganz freundlich gelacht, als des Uhrmachers Hermann zu ihm
sagte: 'Häng du mir mal den Ranzen an!' und als ich ihm beim
Hinausgehen erzählte, wir bekämen heute mittag Pfannkuchen."
Darstellung auf einer Griffelschachtel aus der Zeit um 1955 -
Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung "ABC-Schütze"

Darstellung auf einer Griffelschachtel aus der Zeit um 1955 - Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung "ABC-Schütze"
Der früher übliche Name "ABC-Schütze" für den Schulanfänger
verdankt diese Bezeichnung den sog. Bacchanten des 15. bis 17.
Jahrhunderts, die als wandernde Schulgesellen umherzogen und sich in
den Städten als Hilfslehrer verdingten. Oft führten sie kleine Knaben
mit sich, angeblich um sie im Lesen und Schreiben zu unterrichten oder
in guten Stadtschulen unterzubringen. Tatsächlich aber hielten sie die
ihnen anvertrauten Kinder oft zum Betteln und Stehlen an. Im Besonderen
wurden die Knaben angelernt, Gänse zu "schießen", d.h. durch Steinwürfe
flügellahm zu machen und dann zu fangen. Deshalb wurden die jungen
Schüler allgemein als Schützen, später als "ABC-Schützen" bezeichnet:
Der Hurra-Patriotismus der Kaiserzeit (1871-1918), der auch alle
gesellschaftlichen Bereiche militärisch ausrichtete, gab den
"ABC-Schützen" oft den Namen "Schulrekruten" in Anlehnung an die in der
militärischen Grundausbildung üblichen Bezeichnung "Rekrut".
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Name "Schulrekrut" in der Regel nicht mehr verwendet. (Foto: Udo Kleinfelder)
(Texte: Bert und Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr am Main, Tel. 09359/317)