„Hinlänglich begabt, aber nicht fleißig genug“


Ein Beitrag zum Thema „Schulzeugnisse“ aus dem Archiv des Lohrer Schulmuseums

„Entlaß-Schein“ aus dem Jahr 1824 für die 1810 geborene Lohrer Schülerin der Werktagsschule (Volksschule) Maria Anna Dildei.
„Entlaß-Schein“ aus dem Jahr 1824 für die 1810 geborene Lohrer Schülerin der Werktagsschule (Volksschule) Maria Anna Dildei.
Ausgestellt wurde der Schein zum Preis von 12 Kreuzern von der „Local-Schulinspection“ Stadtpfarrer Schmitt sowie dem Lehrer Elsässer.
(Preisvergleich: Ein Taglöhner erhielt 1830 pro Tag 20 Kreuzer für eine Arbeitszeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.)
Anmerkung: Im Jahr 1808 wurden in Bayern Volksschulzeugnisse als Entlassscheine eingeführt. Sie dienten zunächst
zur Durchsetzung der Schulpflicht. Die Entlassscheine wurden den Abgängern der Werktagsschulen (im Alter von 12-14 Jahren)
sowie der Sonn- und Feiertagsschulen (im Alter von 16-18 Jahren) nach bestandener öffentlicher Prüfung vom
Lokalschulinspektor (Pfarrer) und dem Lehrer ausgestellt.
Der Entlassschein aus dem Jahr 1824 ist das früheste Lohrer Schulzeugnis im Lohrer Schulmuseum.

Wenn sich das Schuljahr seinem Ende nähert, macht sich bei manchen Schülern Unruhe breit, denn nun naht auch die Verteilung der Jahreszeugnisse mit gelegentlichen Unannehmlichkeiten für die Schüler, deren Leistungen zu wünschen übrig ließen.
Das war schon vor Hunderten von Jahren so und hat sich bis heute kaum geändert, denn die Geschichte der Schule ist auch die Geschichte von Noten und Zeugnissen mit all ihren positiven und negativen Folgen.
„Die Präparanden des III. Kurses 1890/91“; hintere Reihe rechts außen: Cornelius Schmitt.
„Die Präparanden des III. Kurses 1890/91“; hintere Reihe rechts außen: Cornelius Schmitt.

Jahreszeugnis des Präparandenschülers Cornelius Schmitt am 31. Juli 1889: Nicht bestanden im Rechnen
Jahreszeugnis des Präparandenschülers Cornelius Schmitt am 31. Juli 1889: Nicht bestanden im Rechnen
Seine schulischen Leistungen waren z. T. recht mäßig. Seinen absoluten Tiefpunkt erlitt Cornelius
am Ende des zweiten Schuljahres. „Der Schüler ist hinlänglich begabt, aber nicht fleißig genug“, stand im Zeugnis,
 und es folgte am Ende der Notenauflistung der folgenschwere Satz: „Nicht bestanden im Rechnen.“
Der Präparandenschüler hatte das Klassenziel nicht erreicht, er war durchgefallen.

Schulzeugnisse im eigentlichen und heutigen Sinn haben ihren Ursprung in den von Jesuiten geführten Gymnasien des 16. - 18. Jahrhunderts. Diese ersten Zeugnisse waren ausgesprochen schülerfreundlich und wurden den Schülern , die in eine andere Schule des Ordens wechselten oder sich um ein Stipendium (Benefiz) für ein weiteres Studium bewerben wollten, auf Wunsch erteilt. Der gute Schüler wurde belohnt, der schwache angespornt, aber nicht beschämt. „Als mächtiger Hebel des Fleißes“ galt bei den Jesuiten der in der Antike bewährte Wetteifer. Im formalen Aufbau glichen die Zeugnisse der Jesuiten den aus dem Mittelalter überlieferten Urkunden und enthielten ein höfliches Urteil über die Leistungen und den Charakter der betreffenden Schüler.
Im Jahr 1788 wurde in Preußen das Abitur eingeführt. Es sollte verhindern, „daß so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche Vorbereitung unreif und unwissend zur Universität eilen“. Das Reifezeugnis war ursprünglich in Preußen ein „Benefizienzeugnis“, das nicht unbedingte Voraussetzung für ein Studium war, während in Bayern nur das „Absolutorium“ = Abitur (seit1809) die Aufnahme eines Studiums ermöglichte.
Für die Volksschüler in Bayern wurden die Schulzeugnisse im Jahr 1808 als „Entlaß-Scheine eingeführt und dienten zur Durchsetzung der Schulpflicht und sollten eine Ausbeutung der Kinder in Form der Kinderarbeit verhindern. Die Entlassscheine wurden den Schülern der Werktagsschulen (im Alter von 12–14 Jahren) sowie den Sonntagsschülern (im Alter von 16-18 Jahren) nach bestandener öffentlicher Prüfung vom Lehrer und dem Lokalschulinspektor (Pfarrer) ausgestellt.
Zum Zweck einer stärkeren Lernmotivierung wurden, ebenfalls ab 1808, Preisverteilungen in Form von Preisbüchern oder Medaillen vorgeschrieben. Die besten Schüler der obersten Gymnasialklassen Bayerns erhielten als höchste Auszeichnung Preismedaillen in Silber, gelegentlich auch in Gold. Im Rahmen einer festlichen Veranstaltung und in Anwesenheit der örtlichen Honoratioren erfolgte die Prämienverteilung, in der Regel im Rathaus. Umstritten waren die „Lokationen“. Dabei wurden die Schüler je nach ihren Leistungen auf „bessere“ oder „schlechtere“ Plätze gesetzt und diese in den jeweiligen Jahresberichten der Schule entsprechend veröffentlicht.
Fleißbildchen; um 1880
Fleißbildchen; um 1880

Wie der jeweilige Zeitgeist bzw. die gesellschaftlich-politischen Strömungen auch in den Zeugnissen deutlich werden, zeigt sich im Reifezeugnis eines Lohrer Abiturienten 1939. Obwohl er in den Fächern Latein und Griechisch „nicht genügend“ und in Deutsch, Französisch, Mathematik und Geschichte nur „genügend“ erhalten hatte, bestand er das Abitur vor allem wegen seiner guten Noten in Leibeserziehung, aufgeteilt mit jeweiligen Einzelnoten in Leichtathletik, Turnen, Schwimmen, Spiel, Boxen und allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit – es galt wohl hier das Motto: Im Turnen 1, im Rechnen 4, das gibt den richtigen Offizier (im Sinne der NS-Erziehung).

Die Problematik einer schüler- und persönlichkeitsbezogenen Benotung ist heute allgemein bekannt und zeigt sich auch im nachfolgenden Beispiel: Im Archiv des Lohrer Schulmuseums befinden sich die Schulzeugnisse von Oskar Rummel, Landtagsabgeordneter von 1962 - 1978, Oberamtsrat, Kreisrat usw. Er hat sie vorbehaltlos dem Museum überlassen. Nicht nur gute Noten finden sich in seinen Zeugnissen, und der Vermerk im Reifezeugnis: „Die Ergebnisse der schriftlichen Prüfung boten ein bedenkliches Bild“ weist einmal mehr auf die Problematik der Schülerbeurteilung und Schülerbenotung hin, und man mag sich die Frage stellen, ob vielleicht das Schulzeugnis auch ein Armutszeugnis der Schule und der Bildungspolitik insgesamt sein kann. In jedem Fall sollte der prognostische Wert von Noten nicht überbewertet werden.
Abiturnoten eines Lohrer Abiturienten 1939 – gute Leistungen in der Leibeserziehung gleichen die ungenügenden Leistungen in den Altsprachen aus: BESTANDEN
Abiturnoten eines Lohrer Abiturienten 1939 – gute Leistungen
in der Leibeserziehung gleichen die ungenügenden Leistungen
in den Altsprachen aus: BESTANDEN
Volkschulabschlusszeugnis aus dem Jahr 1942
Volkschulabschlusszeugnis aus dem Jahr 1942

Im Lohrer Schulmuseum werden Schulzeugnisse aus verschiedenen Epochen deutscher Geschichte ausgestellt, die einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Zeugnisse ermöglichen.

Das Schulmuseum in Lohr am Main, Sendelbacher Str. 21, ist von Mittwoch bis Sonntag 14 - 16 Uhr geöffnet. Schulklassen können nach vorheriger Anmeldung auch außerhalb der normalen Öffnungszeiten das Museum besuchen. (Tel.Nr.: 09359/317 oder 09352/4960)

„Nicht bestanden im Rechnen.“
Aus dem Schulleben des Präparandenschülers Cornelius Schmitt
Als der dreizehnjährige Lehrersohn Cornelius Schmitt aus Marktheidenfeld sich 1887 um die Aufnahme in die Lohrer Präparandenschule (eine obligatorische Vorschule für das Lehrerseminar in Würzburg) bewarb, wäre er fast bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen, weil er die Marienfeiertage nicht lückenlos aufsagen konnte.
Auch seine schulischen Leistungen waren in der Folgezeit recht mäßig. Seinen absoluten Tiefpunkt erlitt Cornelius am Ende des zweiten Schuljahres. „Der Schüler ist hinlänglich begabt, aber nicht fleißig genug“, stand im Zeugnis, und es folgte am Ende der Notenauflistung der folgenschwere Satz: „Nicht bestanden im Rechnen.“ Der Präparandenschüler hatte das Klassenziel nicht erreicht, er war durchgefallen. Als kleinen Trost hatte ihm der Anstaltsleiter im Nachsatz ein sehr lobenswürdiges Betragen bescheinigt.
"LOHN DES FLEISSES", bayerischer Preistaler für Schüler, Text auf der Vorderseite: "MAXIMILIAN JOSEPH KÖNIG VON BAYERN". Dieser Preistaler wurde von 1808 bis 1837 verliehen.
"LOHN DES FLEISSES", bayerischer Preistaler für Schüler,
Text auf der Vorderseite: "MAXIMILIAN JOSEPH KÖNIG VON BAYERN".
Dieser Preistaler wurde von 1808 bis 1837 verliehen.
"LOHN DES FLEISSES", bayerischer Preistaler für Schüler, Text auf der Vorderseite: "MAXIMILIAN JOSEPH KÖNIG VON BAYERN". Dieser Preistaler wurde von 1808 bis 1837 verliehen.
"LOHN DES FLEISSES", bayerischer Preistaler für Schüler,
Text auf der Rückseite: "LOHN DES FLEISSES".
Dieser Preistaler wurde von 1808 bis 1837 verliehen.

Ein halbes Jahr später wäre die Betragensnote wohl anders ausgefallen, denn der Repetent Cornelius musste vier Stunden lang „wegen mehrstündigen Wirtshausbesuches zur Nachtzeit und wegen Kartens im Wirtslokale“ im Karzer (Schulgefängnis) „brummen“, und es wurde ihm per Lehrerratsbeschluss vom 11. Februar 1890 die Entlassung angedroht. Cornelius hatte ganz eindeutig gegen die Disziplinarsatzungen für die königliche Präparandenschule verstoßen, die mit insgesamt 36 Paragrafen alle Lebensbereiche der Schüler reglementierten. Dort hieß es nämlich: „3. Den Schülern ist der Besuch von Wirtshäusern, Kaffeehäusern, Konditoreien, Theatern, Tanzböden und öffentlichen Belustigungsorten strenge untersagt.“ Der Vater und pensionierte Lehrer Karl Stephan Schmitt dürfte sich wohl kaum über die entsprechende schriftliche Nachricht gefreut haben. Es war nicht der einzige Karzeraufenthalt, den sich der etwas eigenwillige Cornelius während seiner Schülerzeit an der Lohrer Präparandenschule einhandelte.
Von den schulischen Leistungen her schaffte der Repetent im Wiederholungsjahr nur mittelmäßige Noten. Er erreichte wohl 1890 das Klassenziel, aber der kgl. Hauptlehrer Enders schrieb ihm ins Zeugnis: „Schmitt hätte seine hinlänglichen Anlagen mit großem Fleiße unterstützen müssen; er erreichte zwar das Klassenziel, doch sollte er sich als Repetent in manchen Fächern bessere Noten erworben haben. Auch sein Betragen hat nicht vollständig entsprochen.“
Als Cornelius 1891 aus der Lohrer Präparandenschule entlassen wurde, bescheinigten ihm die Lehrer im Abschlusszeugnis insgesamt durch „großen Fleiß“ erzielte gute Leistungen. Aber im Grunde deutete kaum etwas daraufhin, dass aus dem Schüler einmal als Rektor der Lohrer Präparandenschule und Lehrerbildner an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg der bedeutendste Reformpädagoge seiner Zeit im unterfränkischen Raum werden würde.


Schülerbeurteilungen im Schülerbogen um 1900:

„Geistig arm, reich an Faulheit.“

„Ist auch durch Strenge nicht zum Fleiß zu bringen.“

„Ließe sich lieber totprügeln, als daß er einmal seine Hausaufgaben machen würde.“

„Scheut die geringste Anstrengung und findet zu Hause Unterstützung.“

„Ein abscheulicher Charakter, der es nur darauf anlegt, seinen Lehrer zu ärgern.“

„Ein Lügner und unverschämter Junge. Wie der Baum so die Frucht.“

„Äußerst roh und wild; bey strenger Bestrafung wird von den Eltern entgegengewirkt.“

„Tückisch, muthwillig und kam betrunken zur Schule und führte sich äußerst ungebührlich auf.“

„Ausgelassen und frech in und außer der Schule.“

„Schule und Kirche versäumt. Heimlicher Spötter.“

„Listig, tückisch und wurde wegen Ruhestörung in der Kirche bestraft.“

„Soll nachts herumstreunen, wird von den Eltern gesteift.“

„Mußte wegen Lügens und Langfingerei bestraft werden.“

„Verspricht nicht viel Gutes. Sittlich nicht zu loben. Roh!“

„Hat vor mehreren Mädchen sittenwidrige Lieder gesungen und hat sich beim Baden sehr schamlos benommen.“

„Wurde wegen schamlosen Betragens auf der Gasse gezüchtigt.“
(Anmerkung: Das Strafrecht des Lehrers erstreckte sich auch auf die Freizeit der Schüler/innen)


Folgen der Schulzeugnisse – Auszüge aus der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung
 (in Klammern das jeweilige Jahr)


"Wieder eine schlechte Oster-Censur"; Holzstich um 1880.
"Wieder eine schlechte Oster-Censur"; Holzstich um 1880.
Ein häufiger Grund für Schläge im Elternhaus waren schlechte Zeugnisse.
Zu diesem Thema schrieb der Lohrer Anzeiger am 12. April 1911: „Von allen Ferien des Jahres dürften
die Osterferien die einzigen sein, deren Eintritt nicht immer mit Freude begrüßt wird, da sie neben dem unzweifelhaften
Vorteil einer Befreiung vom Schulunterricht den bitteren Beigeschmack der mit ihrem Eintritt stattfindenden
Versetzung verbinden (damals endete das Schuljahr an Ostern). Mancher, dessen Leistungen in der Schule
bedenklich unter den Nullpunkt herabsanken, sah deshalb dem Ende des Quartals mit äußerst gemischten
Empfindungen entgegen. Allen Eltern möchten wir darum an dieser Stelle ans Herz legen,
angesichts der bevorstehenden Feiertage mit solchen jungen Sündern nicht allzu hart ins Gericht zu gehen.“

„Vor der Strafkammer des Würzburger Landgerichts stand eine Taglöhnersfrau, weil sie in dem Censurbuche (=Notenbüchlein) ihres schulpflichtigen Kindes einige von dem Lehrer gemachte, ihr unliebe Bemerkungen ausradierte, resp. ein bezügliches Blatt des Censurbüchleins herausgerissen hatte, wegen Vergehens der Urkundenfälschung nach § 274 des R.-Str.-Ges.-B. Das Gericht erkannte nur auf eine Übertretung nach § 363 des  R.-Str.-Ges.-B. und verurteilte die Angeschuldigte zu zwei Tagen Haft.“ (1887)

„In Osnabrück hat sich ein zwölfjähriger Bürgerschüler auf dem Nachhauseweg in einem Gehölz erhenkt, weil er nicht versetzt worden war.“ (1890)

„Der Sohn eines Müllers in Erfurt hatte Ostern eine schlechte Zensur mit nach Hause gebracht. Anstatt nun, wie es sich gehört hätte, den Jungen den Rohrstock kosten zu lassen, hat der Vater eine den betreffenden Lehrer beleidigende Bemerkung unter die Zensur geschrieben. Er ist deshalb vom Schöffengericht zu 10 M. Geldstrafe verurteilt worden.“ (1891)

„Posen. Ein Schulknabe im Alter von 14 Jahren, der die hiesige Mittelschule besucht, wollte sich an seinem Lehrer rächen, weil ihm dieser voraussichtlich eine schlechte Zensur erteilen würde. Er wartete mit einem Stocke vor dem Schulhause; ein Freund im Alter von 15 Jahren, der einen Strick trug, wollte ihn bei seinem geplanten Überfall unterstützen; aber die beiden Bürschchen wurden durch die Polizei von ihrer Absicht abgebracht.“ (1898)

„Nürnberg. Ein Arbeiter, der mit dem von einer Lehrerin seiner Tochter ausgestellten Zeugnisse nicht einverstanden war, da er glaubte, das Kind habe ein besseres Zeugnis verdient, zerriß das Zeugnis vor den Augen der Lehrerin und warf es ihr vor die Füße. Das Schöffengericht erblickte in der Handlungsweise des Mannes eine Beleidigung und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 4 M.“ (1901)

„Waltershausen. Eine Censurverteilung unter polizeilicher Bedeckung ist jüngst hier vorgekommen. Als Schuldirektor Hofmann an die Fortbildungsschüler die Censuren verteilte, hatten sich zu dessen persönlicher Sicherheit zwei Polizisten eingefunden. Anlaß zu dieser ganz außergewöhnlichen Maßregel war der Umstand, daß sich vor einiger Zeit einige Fortbildungsschüler hatten hinreißen lassen, sich an dem Schuldirektor während der Unterrichtsstunden zu vergreifen, wofür sie bereits empfindlich bestraft worden sind. Angesichts der beiden Sicherheitsbeamten verlief denn auch die Verteilung der Censuren ohne jeden Zwischenfall.“ (1901)

„Ein 17 Jahre alter Schüler eines Realgymnasiums, B. aus Charlottenburg, tötete sich, weil er nicht versetzt worden war, in einem Fremdenzimmer eines Hotels in der Anhaltstraße durch Cyankali- und Sublimatdämpfe, die er in mitgebrachten Retorten entwickelt hatte.“ (1905)

„Rußland. Der Wert der Schulzeugnisse in Rußland. Was aus einem Kutscher alles werden kann, davon weiß der 'Petersburgski Listok' ein Geschichtchen zu erzählen, das sich wie eine bittere Satire auf den Formalismus in Rußland liest. Der Kutscher J. K. verspürte Lust, ebenso eine schöne Carriere zu machen wie die Herren, welche hohe Schulen besuchen. Den Weg zur Schule hatte J. K.  allerdings auch eingeschlagen; aber er erwies sich als zu beschränkt für die Schulweisheit. Er versuchte es nachher mit einer Feldmesserschule, aber auch da reichte sein Gelehrtengenie nicht aus, den knifflichen Unterricht zu erfassen. Er entschloß sich darum zum Beruf eines Rosselenkers. In Grodno bei einem Feldmesser fand er als solcher sein Thätigkeitsgebiet. Aber es ist nun mal dem Menschen gegeben, höheren Zielen zuzustreben, und so fälschte J. K. sich ein Reifezeugnis der Ingenieurakademie des Verkehrsministeriums, sagte dem Stall und dem Kutschbock Ade und zog in die weite Welt hinaus, sein Glück zu versuchen. Jetzt sehen wir den Abenteurer die wunderbarste Carriere machen. Im Kreise Bogorodsk wird er als Friedensrichter, dann Geschäftsführer bei der Verwaltung der Pinsker Eisenbahn, weiter stellvertretender Sekretär bei der kurländischen Acciseverwaltung und darauf Bauern-Kommissar. Um die zwei letzteren Posten zu erhalten, dazu hatte er sich das Reifezeugnis eines klassischen Gymnasiums gefälscht. Eine so vielseitige Bethätigung und Begabung – kein Mensch hatte je bemerkt, daß J. K. absolut ungebildet war – mußte naturgemäß dazu führen, daß dem Manne der Hofratsrang verliehen wurde. Endlich erklomm J. K. eine hehre Höhe, er wurde Kreischef auf der Insel Oesel. Zufällig kam man dahinter, daß in den Würden des Kreischefs ein Kutscher steckte. Ob man ihn vom Staatsdienst entfernte oder ihn zu noch höheren Rängen beförderte, darüber schweigt das russische Blatt.“ (1901)
(Texte und Repros: Bert und Eduard Stenger)

Folgen der Schulzeugnisse – Auszüge aus der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung
 (in Klammern das jeweilige Jahr)


„Vor der Strafkammer des Würzburger Landgerichts stand eine Taglöhnersfrau, weil sie in dem Censurbuche ihres schulpflichtigen Kindes einige von dem Lehrer gemachte, ihr unliebe Bemerkungen ausradierte, resp. ein bezügliches Blatt des Censurbüchleins herausgerissen hatte, wegen Vergehens der Urkundenfälschung nach § 274 des R.-Str.-Ges.-B. Das Gericht erkannte nur auf eine Übertretung nach § 363 des  R.-Str.-Ges.-B. und verurteilte die Angeschuldigte zu zwei Tagen Haft.“ (1887)

„In Osnabrück hat sich ein zwölfjähriger Bürgerschüler auf dem Nachhauseweg in einem Gehölz erhenkt, weil er nicht versetzt worden war.“ (1890)

„Der Sohn eines Müllers in Erfurt hatte Ostern eine schlechte Zensur mit nach Hause gebracht. Anstatt nun, wie es sich gehört hätte, den Jungen den Rohrstock kosten zu lassen, hat der Vater eine den betreffenden Lehrer beleidigende Bemerkung unter die Zensur geschrieben. Er ist deshalb vom Schöffengericht zu 10 M. Geldstrafe verurteilt worden.“ (1891)

„Posen. Ein Schulknabe im Alter von 14 Jahren, der die hiesige Mittelschule besucht, wollte sich an seinem Lehrer rächen, weil ihm dieser voraussichtlich eine schlechte Zensur erteilen würde. Er wartete mit einem Stocke vor dem Schulhause; ein Freund im Alter von 15 Jahren, der einen Strick trug, wollte ihn bei seinem geplanten Überfall unterstützen; aber die beiden Bürschchen wurden durch die Polizei von ihrer Absicht abgebracht.“ (1898)

„Nürnberg. Ein Arbeiter, der mit dem von einer Lehrerin seiner Tochter ausgestellten Zeugnisse nicht einverstanden war, da er glaubte, das Kind habe ein besseres Zeugnis verdient, zerriß das Zeugnis vor den Augen der Lehrerin und warf es ihr vor die Füße. Das Schöffengericht erblickte in der Handlungsweise des Mannes eine Beleidigung und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 4 M.“ (1901)

„Waltershausen. Eine Censurverteilung unter polizeilicher Bedeckung ist jüngst hier vorgekommen. Als Schuldirektor Hofmann an die Fortbildungsschüler die Censuren verteilte, hatten sich zu dessen persönlicher Sicherheit zwei Polizisten eingefunden. Anlaß zu dieser ganz außergewöhnlichen Maßregel war der Umstand, daß sich vor einiger Zeit einige Fortbildungsschüler hatten hinreißen lassen, sich an dem Schuldirektor während der Unterrichtsstunden zu vergreifen, wofür sie bereits empfindlich bestraft worden sind. Angesichts der beiden Sicherheitsbeamten verlief denn auch die Verteilung der Censuren ohne jeden Zwischenfall.“ (!901)

„Ein 17 Jahre alter Schüler eines Realgymnasiums, B. aus Charlottenburg, tötete sich, weil er nicht versetzt worden war, in einem Fremdenzimmer eines Hotels in der Anhaltstraße durch Cyankali- und Sublimatdämpfe, die er in mitgebrachten Retorten entwickelt hatte.“ (1905)


„Rußland. Der Wert der Schulzeugnisse in Rußland. Was aus einem Kutscher alles werden kann, davon weiß der 'Petersburgski Listok' ein Geschichtchen zu erzählen, das sich wie eine bittere Satire auf den Formalismus in Rußland liest. Der Kutscher J. K. verspürte Lust, ebenso eine schöne Carriere zu machen wie die Herren, welche hohe Schulen besuchen. Den Weg zur Schule hatte J. K.  allerdings auch eingeschlagen; aber er erwies sich als zu beschränkt für die Schulweisheit. Er versuchte es nachher mit einer Feldmesserschule, aber auch da reichte sein Gelehrtengenie nicht aus, den knifflichen Unterricht zu erfassen. Er entschloß sich darum zum Beruf eines Rosselenkers. In Grodno bei einem Feldmesser fand er als solcher sein Thätigkeitsgebiet. Aber es ist nun mal dem Menschen gegeben, höheren Zielen zuzustreben, und so fälschte J. K. sich ein Reifezeugnis der Ingenieurakademie des Verkehrsministeriums, sagte dem Stall und dem Kutschbock Ade und zog in die weite Welt hinaus, sein Glück zu versuchen. Jetzt sehen wir den Abenteurer die wunderbarste Carriere machen. Im Kreise Bogorodsk wird er als Friedensrichter, dann Geschäftsführer bei der Verwaltung der Pinsker Eisenbahn, weiter stellvertretender Sekretär bei der kurländischen Acciseverwaltung und darauf Bauern-Kommissar. Um die zwei letzteren Posten zu erhalten, dazu hatte er sich das Reifezeugnis eines klassischen Gymnasiums gefälscht. Ein so vielseitige Bethätigung und Begabung – kein Mensch hatte je bemerkt, daß J. K. absolut ungebildet war – mußte naturgemäß dazu führen, daß dem Manne der Hofratsrang verleihen wurde. Endlich erklomm J. K. eine hehre Höhe, er wurde Kreischef auf der Insel Oesel. Zufällig kam man dahinter, daß in den Würden des Kreischefs ein Kutscher steckte. Ob man ihn vom Staatsdienst entfernte oder ihn zu noch höheren Rängen beförderte, darüber schweigt das russische Blatt.“ (1901)



Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist
von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet.
 Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
 (Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main; Tel. 09352/4960
oder 09359/317 oder 09352/848-465, e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)

zurück zur Homepage
zurück zur Startseite